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17. Dezember 2021
Christian Sewing hat diesen Artikel auf Einladung des Handelsblatts geschrieben, das den scheidenden Bundesbank-Präsidenten Jens Weidmann als einen der „Menschen des Jahres“ ausgewählt hat. Das gesamte Spezial findet Sie auf der Website des Handelsblatts.
So mancher dürfte Jens Weidmann unterschätzt haben, als er im Mai 2011 als jüngster Präsident aller Zeiten an die Spitze der Bundesbank trat – mitten in der Euro-Krise. Sicher, nach Jahren beim Internationalen Währungsfonds und beim Sachverständigenrat stand sein ökonomischer Sachverstand außer Frage. Und als Wirtschaftsberater der Bundeskanzlerin verstand er es zweifellos, schwierigste Situationen zu lösen – sei es in der Finanzkrise 2008 oder auch bei der Opel-Rettung.
Aber würde das reichen in einem Umfeld, in dem erfahrene Notenbanker wie Axel Weber oder Jürgen Stark nach grundsätzlichen geldpolitischen Debatten zurücktraten? Würde seine stets ruhige Stimme für eine stabilitätsorientierte Zentralbankpolitik Gehör finden? Würde er Einfluss ausüben können auf eine klare Mehrheit, die in der Staatsschuldenkrise auch die Mittel der Zentralbank voll ausschöpfen wollte? Oder würde er nur einen Platz weit unten am Tisch mit 17 anderen Zentralbankpräsidenten haben – unter dem EZB-Präsidenten Mario Draghi, der schon bald ankündigen sollte, man werde tun „whatever it takes“, um den Euro zu retten?
Eine einfache Antwort auf diese Fragen gibt es auch heute nicht. Die Rolle von Deutschlands Repräsentanten im Rat der Europäischen Zentralbank gehört wohl zu den schwierigsten wirtschaftspolitischen Aufgaben, die die Bundesregierung zu vergeben hat. Man vertritt eine Position, die mit einer großen Tradition und einer klaren Haltung einhergeht. Eine Haltung aber, die andere Notenbanker nicht immer teilen. Die politische Realität hat zu einer neuen geldpolitischen Realität geführt, die im Maastrichter Vertrag von 1992 nicht vorausgesehen worden war. Griechenlandkrise, Staatsverschuldung, Pandemie – die Herausforderungen waren und sind gigantisch.
In einem solchen Umfeld braucht es ausgeprägte diplomatische Fähigkeiten, um die eigene Position mit Kraft und Wirkung zu vertreten. Und es braucht Stehvermögen. All das hat Jens Weidmann, das hat er immer wieder bewiesen. Mochten ihn die Medien in halb Europa phasenweise als Blockierer darstellen, mochte manchmal selbst aus dem politischen Berlin Kritik herüberschallen, mochte der damalige EZB-Präsident ihm vorwerfen, „nein zu allem“ zu sagen – Jens Weidmann blieb standhaft, ohne sich dabei zu verkämpfen. Der Bundesbankpräsident trug stets mit größter Sachlichkeit seine Argumente vor, blieb höflich, aber bestimmt. Fein in der Argumentation, aber hart in der Sache. Wenn er etwas sagt oder Rat gibt, dann ist das präzise, wohl durchdacht und gibt wertvolle Impulse – so habe ich Jens Weidmann auch im persönlichen Gespräch erlebt.
Mit dieser Haltung verkörperte er zehn Jahre lang so etwas wie ein geldpolitisches Gewissen der Bundesbank in Europa. Ein Gewissen, dessen Mahnungen gerade jetzt – zum Zeitpunkt seines Rücktritts – berechtigter denn je erscheinen.
Bewährungsproben gab es viele für Weidmann. Eine große kam im Spätsommer 2012. Weidmann stellte sich gegen das Notfallprogramm der EZB, das den Kauf von Staatsanleihen aus Krisenländern in großem Stil erlauben sollte. Er hielt auch dann stand, als er von allen Seiten unter Druck gesetzt wurde und er als einziger im damals 23-köpfigen EZB-Rat gegen das Programm stimmte. Selbst die Bundesregierung verteidigte die EZB-Entscheidung, gegen die sich der Bundesbankpräsident gestellt hatte. Weidmann kämpfte weiter – aber nicht mit dem Säbel, sondern mit dem Florett. Es sagt viel über seinen Stil aus, dass eine seiner bekanntesten Reden weniger politisch als literarisch daherkommt. Bei einer Veranstaltung kurz nach der umstrittenen Entscheidung sprach er nicht über Griechenland, Italien oder die aktuelle Geldpolitik. Er sprach über Goethes „Faust II“, darüber, wie Mephisto den Kaiser zum Gelddrucken überredete. Wie zunächst alles glänzend und bequem aussah – doch bald darauf in einer rapiden Geldentwertung endete. Die Botschaft war gesetzt.
Dass ihm seine Kritiker eine Verweigerungshaltung vorwarfen, wird dem aufrechten Bundesbankpräsidenten nicht gerecht. Weidmann hat nicht „nein zu allem“ gesagt. Vielmehr sagte er beharrlich „Ja“ zu geldpolitischen Prinzipien, „Ja“ zu einer engen Auslegung der Regeln im Vertrag von Maastricht. Weidmann ist nicht grundsätzlich gegen eine lockere Geldpolitik – das hat er zum Ende seiner Amtszeit noch einmal bewiesen, als er das schnelle Handeln der EZB in der Corona-Krise ausdrücklich unterstützte. Ihn haben die Erfahrungen in der Finanzkrise 2008 geprägt, als die Entschlossenheit von Notenbanken und Regierungen ebenfalls eine Katastrophe verhinderte. Und auch die neue geldpolitische Strategie, die die EZB dieses Jahr beschlossen hat, trug er mit.
Was ihn von vielen anderen Notenbankern unterscheidet ist nicht eine besondere Vorliebe zu höheren Zinsen – sondern dass er das Mandat der Notenbank auch in Krisenzeiten weder für dehnbar noch für verhandelbar hält. Er ist ein strenger Verfechter des Primats der Geldwertstabilität, das die Bundesbank in ihrer Geschichte so geprägt hat: Die Zentralbank hat zuallererst den Auftrag, das Geld stabil zu halten. Er steht damit in einer Tradition mit Otmar Issing, dem ersten Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank. Wenn es eine fiskalpolitisch motivierte Umverteilung zwischen den Staaten geben soll, dann muss sich die Politik darauf einigen – und sie darf dieses Problem nicht an die Notenbank abschieben. Diesem Grundsatz dürften zwar alle Mitglieder des EZB-Rats damals wie heute zustimmen. Aber in der Frage, wo genau die Grenze zwischen Geld- und Fiskalpolitik verläuft, war Weidmann strenger als die meisten anderen.
Skeptiker werfen ihm vor, er habe mit dieser Prinzipientreue am Ende wenig erreicht, weil er weder die Krisenprogramme der EZB verhinderte noch die ultralockere Geldpolitik stoppte. Es lässt sich nicht bestreiten, dass er letztlich keine Mehrheit im EZB-Rat von seiner Position überzeugen konnte. Aber es würde zu kurz springen, ihn nur daran zu messen. Für die EZB lässt sich seine Rolle vielleicht mit der einer Opposition im Parlament vergleichen: Die Kritik der parlamentarischen Minderheit zwingt die Mehrheit dazu, ihre Politik besser zu begründen – und von extremen Schritten Abstand zu nehmen, weil sie der Opposition dann zu viel Angriffsfläche bieten würde.
Wir sollten Jens Weidmann also dankbar dafür sein, dass er oft Wortführer dieser Opposition war und dafür auch mal die Buhmann-Rolle in Kauf genommen hat. Dazu gehörte nicht nur, im EZB-Rat selbst gegen umstrittene Entscheidungen zu stimmen, sondern auch, seinen Standpunkt öffentlich zu vertreten. Das mag in einer Notenbank-Tradition, in der man nach außen gerne Konsens demonstriert, nicht gern gesehen sein. Angesichts des erheblichen Einflusses, den die Europäische Zentralbank auf die Wirtschaft und damit auf das Leben von rund 340 Millionen Menschen in der Eurozone hat, muss sich die EZB dieser öffentlichen Debatte jedoch stellen. Gleichzeitig ließ Weidmann aber auch nie einen Zweifel daran, dass eine gemeinsame Politik für eine Währungsunion immer verschiedenen Anforderungen gerecht werden muss – und er arbeitete aktiv mit an solchen Lösungen. „Jens hatte eine klare Haltung zur Geldpolitik“, sagte EZB-Präsidentin Christine Lagarde zu seinem Abschied. „Doch ich war stets beeindruckt von seinem Willen, im EZB-Rat nach Gemeinsamkeiten zu suchen, von seinem Einfühlungsvermögen gegenüber seinen Kollegen im Eurosystem und von seinem Willen, Kompromisse zu finden.“
Auch das sagt viel über Weidmanns Stil aus. Er hat damit das Erbe einer Institution gesichert, die in Deutschland seit Jahrzehnten höchstes Ansehen genießt. Die Bundesbank kann in einer Währungsunion mit 19 Mitgliedern nicht mehr allein den Kurs vorgeben. Zumindest kann sie aber weiter als Anker für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik fungieren – ohne den Euro an sich jemals in Frage zu stellen. Diese Rolle hat Jens Weidmann in den vergangenen zehn Jahren geprägt. Das war und bleibt wichtig für das Vertrauen der Deutschen in den Euro.
Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass die ultralockere Geldpolitik an ihr Ende kommt und auch die Konsumentenpreise wieder ansteigen. Und dass Weidmann mit seiner zentralen Warnung richtig lag: Dass es der EZB schwerfallen würde umzusteuern, wenn die Inflationsentwicklung es eigentlich erforderlich machen würde. Auch weil die Schuldner in Europa – allen voran viele Regierungen – de facto auf dauerhaft niedrige Zinsen angewiesen sind. Es sind die Geister, die wir riefen, um es im Sinne Weidmanns mit Goethe zu sagen. Weidmann selbst wird sich an den nun anstehenden Entscheidungen nicht mehr mitwirken. Er hat für sich beschlossen, dass zehn Jahre an der Spitze der Bundesbank genug sind.
Weidmann und ich waren uns stets einig darin, dass wir Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit in der EU nur sichern können, wenn wir eng zusammenarbeiten. Mehr Europa muss das Ziel sein – auch wenn man um den richtigen Weg dorthin manchmal ringen muss.
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