Nachricht 23. September 2021

Gesetz, Anspruch und Wirklichkeit – was können Aufsichtsräte leisten?

Paul Achleitners Rede beim 10. Frankfurter Aufsichtsratstag

Sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank für die Einladung, heute bei Ihnen auf dem 10. Frankfurter Aufsichtsratstag sprechen zu dürfen.

Ich habe dies gerne angenommen, da mir – nach über 20 Jahren als Auf­sichtsrat in diversen DAX-Unternehmen und, wie jemand ausgerechnet hat, mehr als 80 Mandatsjahren - das Thema natürlich sehr am Herzen liegt.

Sie haben mich gebeten, insbesondere die Rolle der Aufsichtsratsvorsitzenden zu be­leuchten. Deshalb werde ich besonders an meine Erfahrungen als Vorsitzender des Aufsichts­rats der Deutschen Bank in den vergangen 9 Jahren anknüpfen.

Und hierbei vor allem hinsichtlich der nachhaltigen Professionalisierung der Aufsichtsratsarbeit.

Sicher, die Deutsche Bank ist ein Sonderfall, weil eine internationale Großbank besonders genau reguliert wird. Aber vieles, was wir bei der Deutschen Bank in den vergangenen zwei Jahrzehnten erleben konnten, sehen wir mittlerweile auch bei anderen Unternehmen:

  • Das fängt mit der Zahl der Sitzungen an: Kamen der Aufsichtsrat der Deutschen Bank und seine Ausschüsse im Jahr 2000 achtzehnmal zusammen, waren es 2020 63 Mal.  Bei an­deren Konzernen, in denen ich tätig war, waren es nicht ganz so viele – aber der Trend ist immer der gleiche.
  • Auch die Zahl der Ausschüsse hat sich drastisch erhöht: Zur Jahrtausendwende gab es nur einen regelmäßig tagenden Ausschuss für Kredit- und Marktrisiken und einen immer nur ad-hoc einberufenen Präsidialausschuss. Heute sind es acht regelmäßig tagende Ausschüsse.
  • Und während eine Aufsichtsratssitzung damals im Schnitt rund zweieinhalb Stunden dauerte und es kaum umfangreiche Unterlagen gab, sind es heute zehn Stunden – trotz intensiver Vorbereitung.

Wenn wir nun auf die Zusammensetzung der Aufsichtsräte deutscher Konzerne schauen, so stellen wir fest, dass sie auch weitaus diverser sind: mehr Frauen, mehr internationale Aktio­närsvertreter, mehr Experten. Der Frauenanteil in Dax-Aufsichtsräten auf der Anteils­eignerseite ist natürlich auch durch gesetzliche Vorgaben auf rund ein Drittel gestiegen. Auch mit Blick auf die Internationalität gibt es erheblichen Fortschritt. Auf der Eignerseite kommt inzwischen jeder fünfte Aufsichtsrat aus dem Ausland. Bei der Deutschen Bank ist es jeder zweite.

Zweifellos: Es hat eine Professionalisierung in der Zusammensetzung und der Arbeit gege­ben – weitaus diversere Teams kommen ihrer Aufgabe mit weitaus größerer Intensität nach. Der Unterschied ist erheblich. Ich habe einmal im Scherz gesagt, dass die Sitzungen deut­scher Aufsichtsräte früher etwas von rituellen Regentänzen hatten. Die Kontrolleure glaub­ten, ihre Aktivitäten hätten tatsächlich etwas mit dem Ergebnis – sprich dem Erfolg des Un­ternehmens – zu tun. Tatsächlich ging es meist aber nur darum, das Tanzen zu verbes­sern und nicht das Wetter.

Allerdings: Nicht nur die Arbeit der Aufsichtsräte hat sich verbessert, es haben sich auch die Anforderungen und Erwartungen an Aufsichtsräte erheblich vergrößert. Und das in einem Umfang, dass die Frage berechtigt ist, ob die Aufsichtsräte trotz größeren Einsatzes mit den gewachsenen Anforderungen und Erwartungen überhaupt Schritt halten können.

Woher kommt das? Im Kern geht diese Herausforderung darauf zurück, dass wichtige Anspruchsgruppen wie institutionelle Investoren, aber auch Aufsichtsbehörden überwiegend durch das einstufige angelsächsische System, die One Tier Governance, geprägt sind.

Entsprechende Ansprüche richten sie auch an den deutschen Aufsichtsrat. Die Erwartung an den Aufsichtsrat, als Interessenvertreter der Aktionäre oder aber regulatorisch, als oberstes Funktionsorgan, Rede und Antwort zu stehen, steigt ständig. Sogenannte "Governance Roadshows" werden als selbstverständlich vorausgesetzt. Und die Themen, die dann angesprochen werden, setzen bei Aufsichtsratsvorsitzenden heute ein hohes Maß an Erfahrung und Standfestigkeit voraus, um sich nicht in Fragestellungen hinein ziehen zu lassen, die Sache des Vorstands sind. Die Grauzone Unternehmensstrategie sei hier als prominentes Beispiel genannt.

Auch Regulatoren und Aufsichtsbehörden haben keinerlei Verständnis dafür, wenn sich Auf­sichtsräte darauf berufen, dass es nur ihre Pflicht sei, das Kontrollsystem des Unternehmens zu überprüfen. Vielmehr erwarten sie detaillierte Kontrollmaßnahmen, die das deutsche Aktienrecht so gar nicht vorsieht. Zumindest im Bankensektor werden übrigens neben dem Vorsitzenden auch regelmäßig einzelne Mitglieder des Aufsichtsrats zu Gesprächen vorgeladen. Und hier hilft es wenig, auf die deutsche Corporate Governance zu verweisen, denn auslän­dische Aufsichtsbehörden weisen bestimmte Aufgaben der obersten Kontrollfunktion zu, ganz gleich, ob sie operativer Natur sind oder nicht. Und diese ultimative Kontrollfunktion ist in Deutschland nun einmal der Aufsichtsrat.

Diese Diskrepanz zwischen aktienrechtlicher Ausgestaltung der Rolle einerseits sowie Anspruch und Erwartung andererseits spiegelt sich auch in der Öffentlichkeit wider. Vor allem der angel­sächsischen Welt ist das zweigliedrige System der Unternehmensführung und -kon­trolle fremd. Und nicht nur dort gibt es die Tendenz, die Rolle der Aufsichtsratsvorsitzenden zu überfrachten. Wenn es schlecht läuft, sind sie irgendwann für alles verantwortlich. Da spielt es kaum eine Rolle, ob man das, was da gerade passiert, überhaupt direkt beeinflus­sen kann.

Soweit zu den Hintergründen.

Im Folgenden möchte ich nun sieben persönliche Beobachtun­gen zur Rolle des Aufsichtsratsvorsitzenden eines deutschen Unternehmens mit Ihnen teilen.

 

Beobachtung Nummer 1: Aufsichtsratsvorsitzende leiten den Aufsichtsrat - nicht das Un­ternehmen

Im angelsächsischen System heißt es: "the CEO runs the company, the Chair runs the board" – auch wenn diese Aufgabenteilung dann in den Vereinigten Staaten oft dadurch aufgehoben wird, dass beide Funktionen bei ein und derselben Person liegen.

Das Rollenverständnis bei uns scheint dagegen klar: der Vorstand des Unternehmens führt dieses in eigener Verantwortung, der Aufsichtsrat beaufsichtigt und berät ihn dabei. Die operative Verantwortung liegt beim Vorstand, die Kontrolle beim Aufsichtsrat. Daneben hat der Auf­sichtsrat auch die Aufgabe, Vorstände zu bestellen, deren Leistung zu beurteilen, sie ent­sprechend zu entlohnen sowie wichtigen Entscheidungen zuzustimmen, insbesondere wenn diese das Eigenkapital des Unternehmens betreffen.

Das bringt uns zu dem oft diskutierten Thema Unternehmensstrategie: Es besteht kein Zweifel, dass nach deutschem Recht der Vorstand für die Strategieentwicklung verantwortlich ist und es formell auch keine Zustimmungspflicht des Aufsichtsrats dazu gibt.

Wie aber soll ein Aufsichtsrat die Leistungen eines Vorstands beurteilen oder - wichtiger noch - etwaigen Akquisitionen zustimmen, wenn er den zugrundeliegenden strategischen Kurs nicht mitträgt? Ist es nur einer im Plenum, der nicht zustimmt - soll er sich dann enthalten, widersprechen oder sogar zurücktreten? Sind es mehrere, treten sie alle zurück? Sind es die meisten, tritt dann der Vorstand zurück? Da alle diese Optionen meist nicht im Interesse des Unternehmens liegen dürften, ist jeder Vor­stand gut beraten, den Aufsichtsrat in angemessener Weise in die Strategieüberlegungen mit einzubeziehen.

Traditionell bezog sich das auf den Aufsichtsratsvorsitzenden - bei zu­nehmend stärker mit Experten besetzten Gremien wird dies aber nicht reichen. Hier zeigt sich in der Praxis ganz klar, wie ernst der Vorstand den Aufsichtsrat auch in Sachen Expertise nimmt. Aufsichtsbehörden, aber auch institutionelle Investoren erwarten ohnedies, dass auch die Aufsichtsratsmitglieder beim Thema Strategie auskunftsfähig sind. Deshalb machen auch mehr und mehr Unternehmen jährlich eine Strategiesitzung für den Aufsichtsrat.

 

Beobachtung Nummer 2: Der Aufsichtsrat muss ein kompetentes Team sein

Nicht nur im Bereich "Kontrolle", sondern auch im Bereich "Rat" muss ein Aufsichtsrat über die nötigen Kompetenzen verfügen, um ernst genommen zu werden. Es sollte guter Gover­nance entsprechen, dass sich Vorstände immer mal Rat von Mitgliedern des Aufsichtsrats holen, die über besondere Erfahrungen oder Kompetenzen verfügen. Eine der ureigensten Pflichten von Aufsichtsratsvorsitzenden und - falls nicht identisch - Vorsitzenden des No­minierungsausschusses ist es daher, Personen zu finden, die individuell und kollektiv die ge­samte erforderliche Bandbreite an Kompetenzen abbilden, um den Vorstand einerseits an­gemessen kontrollieren zu können und andererseits akzeptierte Ratgeber zu sein.

Doch damit nicht genug. Aufsichtsratsvorsitzende müssen dafür sorgen, dass diese Kompetenz auch zum Tragen kommt. Mit anderen Worten, es bedarf auch im Aufsichtsrat der Arbeitsteilung und der Teamarbeit. Man kennt dies meist mit Blick auf den Prü­fungsausschuss, dessen Vorsitzender auch nach deutschen Regeln nicht der Vorsitzende des Aufsichtsrats sein soll.

Meine persönliche Erfahrung ist, dass Ausschüsse ein sehr effektives Instrument darstellen, die Arbeit des Aufsichtsrats weiter zu professionalisieren. Zunächst kann in kleineren Grup­pen wesentlich effizienter gearbeitet werden als in den Plenumssitzungen, wo meist weit mehr als 30 Menschen zusammenkommen – neben dem Aufsichtsrat sind das Vorstände, Protokollanten, Dolmetscher und möglicherweise weitere Vortragende. Im Ausschuss hat man auch mehr Zeit für einzelne The­men und kann tiefer und auch mal vertraulicher diskutieren.

Schließlich bindet insbesondere der Vorsitz in einem Ausschuss die jeweiligen Personen viel intensiver ein als die übrigen Mitglieder im zwanzigköpfigen Gesamtgremium. Bei der Deutschen Bank werden die erwähnten acht Ausschüsse von sechs verschiedenen Vorsitzenden geführt, allesamt sehr kompetente und führungsstarke Persönlichkeiten, die Hälfte davon Frauen. Dadurch haben wir den Kreis an Personen deutlich vergrößert, die äußerst engagiert sind und mit ihren speziellen Fähigkeiten und Ideen zur Diskussion mit dem Vorstand beitragen. Und davon profitiert das gesamte Aufsichtsratsgremium, da unsere Arbeit mehr Tiefgang hat.

Voraussetzung dafür ist, dass die Aufsichtsratsvorsitzenden bereit sind, Macht abzugeben, Informationen frühzeitig zu teilen und Aufgaben zu delegieren. Und dass die Rückkopplung funktioniert, damit die Informationen aus den Ausschüssen auch ins Gesamtplenum zurück­fließen. Ein guter Aufsichtsratsvorsitzender zu sein bedingt heute also auch, durch inhaltliche und soziale Kompetenz den Respekt der Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen – und nicht mehr durch Amt, Herrschaftswissen und Machtkonzentration.

 

Beobachtung Nummer 3: Diversität muss gelebt werden

Die Frage der Diversität der Gremien nimmt heute berechtigterweise großen Raum ein. Da­bei ist Diversität unter anderem des­halb erstrebenswert, weil ein diverses Team nachweislich bessere Entscheidungen trifft. Unterschiedliche Sozialisierungen, Erfahrungen und Persönlichkeiten verhindern "Group think" und erlauben wesentlich differenziertere Diskussionen.

Interessanterweise hat hier die deutsche Corporate Gover­nance mit dem Mitbestimmungsgesetz eine Art Vorreiterrolle inne – beugt es doch automatisch einem allzu homogenen Aufsichtsrat vor. Allerdings täte meiner Meinung nach etwas mehr Internationalität auch der Arbeitnehmerseite gut.

Allerdings nützt Ihnen die beste Diversität nichts, wenn es nicht gelingt, den einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern Raum zu geben, um sich einzubringen. Dazu sind die bereits erwähnten Ausschüsse sicher hilfreich, aber für sich genommen nicht genug. Dem Aufsichtsratsvorsitzenden muss es gelingen, in dem Gremium insgesamt eine Diskussi­onskultur zu schaffen, in der nicht nur die Meinung einzelner Mit­glieder akzeptiert wird, sondern diese auch Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben kann. Dafür bedarf es früher und ergebnisoffener Diskussionen – statt nur Ja / Nein-Entscheidungen zu präsentieren oder zu nachträglichen Informationsveranstaltungen einzuladen. Wenn Sie eine Gruppe von hochkarätigen Personen zusammenbringen, die einen Beitrag zum Erfolg des Unternehmens leisten wollen, dann sollten Sie diese nicht auf Powerpoint-Studien reduzieren.  Diversität, ohne diese zu nutzen, ist eine Quelle kontraproduktiven Unmuts.

Und meines Erachtens sollten wir uns in deutschen Aufsichtsräten auch von der Fehlvorstellung trennen, dass es gewissermaßen eine Niederlage der Vorsitzenden ist, wenn Entscheidungen nicht einstimmig getroffen werden. Auch die Charakterstärke, widersprechen zu können, gehört meiner Meinung nach zu den Auswahlkriterien für Aufsichtsrats-Kandidaten.

Und ei­nes darf ich noch hinzufügen: Bei der Zusammenstellung eines diversen Teams sollte man nicht vergessen, dass auch die Kenntnis des deutschen Unternehmensumfelds mit all seinen Eigenheiten ein wichtiger Bestandteil des Kompetenzprofils eines deutschen Aufsichtsrats sein sollte - wenn nicht bei jedem Einzelnen, so doch im Kollektiv.

 

Beobachtung Nummer 4: Vertrauen ist essenziell

"Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" mag eine alte Weisheit sein, die aber nur bedingt für die Zusammenarbeit zwischen Aufsichtsratsvorsitzenden und Vorstandsvorsitzenden gilt. Die Qualität der Beziehung zwischen diesen beiden Amtsinhabern ist das entscheidendste Kriterium für eine effektive Unternehmensführung in unserem dualen System. Natürlich verlangt ein rich­tiges Rollenverständnis zunächst Raum für kritische Distanz. Aufsichtsratsvorsit­zende dürfen sich nicht in einer Weise vereinnahmen lassen, dass sie ihrer kritischen Kontroll­funktion nicht mehr gerecht werden. Dennoch muss die Basis der Zusam­menarbeit gegenseitiges Vertrauen sein. Wird dieses nachhaltig gestört, bedarf es personel­ler Konsequenzen.

Idealerweise sollte ein Vorstandsvorsitzender den Aufsichtsratsvorsitzenden zumindest als Sounding Board und manchmal auch als Mentor nutzen können, um viele wichtige Einzel­überlegungen auch in einer frühen Phase zu besprechen. Vorstandsvorsitzende sind oft einsam, da ihr Umfeld gerade bei Personal -und Organisationsfragen stets auch ein Eigeninteresse hat. Ein erfahrener Aufsichtsratsvorsitzender kann hier helfen, ohne dass der Vorstandsvorsitzende die Entscheidungshoheit verlieren darf. 

Nicht immer sind diese Idealvoraussetzungen gegeben. Dies hängt nicht nur von dem per­sönlichen Verhältnis der beiden ab, sondern auch von der Situation des Unternehmens. In schwierigen Zeiten wird dieses Verhältnis nicht nur durch inhaltliche Herausforderungen geprägt wer­den, sondern auch durch formelle und rechtliche Notwendigkeiten. "Krise muss man können", das gilt für Aufsichtsrats- wie für Vorstandsvorsitzende. Doch gerade dann ist "Vertrauen essenziell, Kontrolle unabdingbar".

Nur am Rande sei erwähnt, dass natürlich auch unter den Aufsichtsratsmitgliedern selbst Vertrauen gegeben sein muss. Gespräche untereinander müssen nicht nur vertraulich bleiben, sondern auch durch gegenseitiges Vertrauen sowie persönlichen Respekt geprägt sein. Meines Erachtens können regelmäßige gemeinsame Weiterbildungsmaßnahmen ebenso eine wichtige Rolle spielen wie ein offen-konstruktiver Umgang mit der oft unterschätzten Effizienzprüfung des Aufsichtsrats, die eigentlich Effektivitätsprüfung heißen müsste.

 

Beobachtung Nummer 5: Führen durch Fragen

Der Aufsichtsrat insgesamt und auch der Vorsitzende kann nach deutschem Verständnis dem Vorstand nur in wenigen Sondersituationen Anweisungen geben. Dennoch wird er - wie bereits besprochen - von vielen Stakeholdern als das oberste Führungsgremium eines Unternehmens gesehen.

Wie lässt sich das lösen? Ich nenne es "Führen durch Fragen".

Fragen, die der Aufsichtsrats­vorsitzende, Ausschussvorsitzende, aber auch einzelne Mitglieder des Aufsichtsrats dem Vorstand stellen, haben oft auch eine suggestive Wirkung. In jedem Fall führen sie aber dazu, dass sich Vorstände und entsprechend verantwortliche Mitarbeiter mit dem Thema (noch einmal) gründlicher – und auch aus anderer Perspektive – auseinandersetzen werden. Oft lösen Fragen entsprechende Dialoge aus: "Wie war das gemeint? Warum fragen Sie?" Et cetera.

Damit dieser Ansatz funktioniert, bedarf es wiederum des Vertrauens zwischen den Par­teien, damit nicht für jede Antwort Heerscharen von Rechtsgelehrten bemüht werden müs­sen. Außerdem braucht es eine Kompetenzvermutung, damit der Vorstand die Fragen des Aufsichtsrats nicht als läs­tige Pflichtübung abtut, sondern als Chance begreift, Einzelthemen noch einmal aufzuarbei­ten.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, wie die jeweiligen Agenden für die Aufsichtsratssitzungen und Ausschüsse erstellt werden. Meiner Meinung nach kann und sollten sich die Vorsitzenden der Gremien hier aktiv einbringen und nicht einfach die vom Vorstand zusammengestellten Themen abarbeiten. Dabei sollte man, wie auch sonst, ein angebrachtes „Miteinander“ leben.

Erwähnt sei hier die Selbstverständlichkeit, dass zumindest bei der Deutschen Bank jedem Ausschuss ein verantwortliches Vorstandsmitglied zugeordnet ist, welches einen engen Austausch mit den jeweiligen Ausschuss-Vorsitzenden pflegt. Auch damit ergibt sich die Gelegenheit, unkompliziert Rat zu suchen bzw. zu geben.

 

Beobachtung Nummer 6: People, people, people

Die banalste Management-Weisheit besagt: "it's all about people". Wie bereits festgestellt, nützt ohne einen kompetenten Aufsichtsrat der beste Aufsichtsratsvorsitzende nichts, und ohne kompetenten Vorstand nützt auch der beste Aufsichtsrat nichts.

Die kontinuierliche Suche nach geeignetem Personal ist eine der Kernaufgaben von Auf­sichtsratsvorsitzenden in Zusammenarbeit mit dem Nominierungsausschuss. Insofern gilt es, hier hohe Standards an den Auswahl- und Entscheidungsprozess zu stellen. Be­sonders herausfordernd ist es, einen laufenden Überblick über interne Talente zu behalten, um diese auch rechtzeitig in die Vorstandsnachfolgeplanung mit einzubeziehen.

Hier ist die Abgrenzung zu der unbestrittenen Personalverantwortung des Vorstands besonders heikel. Der Aufsichtsrat darf hier einerseits keine falschen Signale senden. Andererseits würde das Gremium seiner Aufgabe aber auch kaum gerecht, wenn es sich bei wichtigen Personalentscheidungen ausschließlich mit den Vorschlägen des Vorstandsvorsitzenden begnügen würde, ohne eigene Meinungen zu Vorstandskandidaten einbringen zu können.

Dabei kann es Vor- und Nachteile haben, wenn die oder der Aufsichtsratsvorsitzende nicht aus dem eigenen Unternehmen kommt: Das geht damit einher, dass weitaus weniger Detailkenntnisse zu einzelnen Nachwuchskräf­ten vorhanden sind – dafür kann sie oder er vielleicht unvoreingenommener sein.

Zudem können andere Mitglieder über den Nominierungsausschuss dieses Defizit kompensieren. Und auch hier sind Ausschüsse, in denen regelmäßig auch Mitarbeiter der zweiten und dritten Führungs­ebene präsentieren, hilfreich, um diese potentiellen Kandidaten besser kennenzulernen.

Eine besondere Situation entsteht naturgemäß, wenn an der Aufsichtsratsspitze selbst ein Wechsel ansteht. Auch hier hat sich viel geändert. Die Zeiten sind vorbei, in denen der Vorstandsvorsitzende wie selbstverständlich an die Spitze des Aufsichtsrats gewechselt ist.

Dieser Automatismus ist durch einen professionellen Prozess ersetzt worden. Der beginnt damit, dass der amtierende Aufsichtsratsvorsitzende nicht seine Nachfolgerin oder seinen Nachfolger auswählt, sondern der Nominierungsausschuss. Und dieser sollte in einer solchen Phase nicht vom Aufsichtsratsvorsitzenden geleitet werden, sondern von einem dafür qualifizierten Mitglied, das frei von Interessenkonflikten ist. Dabei wird die oder der Vorsitzende des Nominierungsausschusses selbstverständlich von professionellen Beratern unterstützt. Auch das gehört zu einem guten Suchprozess, genauso wie ein detailliertes Kompetenz- oder Anforderungsprofil. Alles andere würden internationale Investoren gar nicht akzeptieren.

Dazu gehört übrigens auch, dass man dann den Prozess nicht beendet, wenn man das Gefühl hat, den ersten geeigneten Kandidaten gefunden zu haben – und die oder der schon signalisiert hat, diese Aufgabe auch übernehmen zu wollen. Denn eines kann ich Ihnen versichern: Kein Kandidat wird alle Kriterien voll und ganz erfüllen können. Es gilt also, die Person zu finden, die dem Zielbild möglichst nahe kommt – und das ein iterativer Prozess.

Das zur Theorie. Irgendwelche Parallelen zu realen Unternehmen oder Prozessen sind natürlich rein zufälliger Natur.

 

Beobachtung Nummer 7: Die gelebte Praxis zählt

Das deutsche zweistufige System ist besser als sein Ruf. Deshalb sollten wir uns darauf konzentrieren, die gelebte Praxis zu verbessern, statt eine Anpassung an das angelsächsische One-Tier-System oder auch nur den schweizerischen Verwaltungsrat zu fordern.

Um dies zu erreichen, wer­den wir allerdings nicht um rechtliche Verbesserungen her­umkommen. Ein Beispiel für den Handlungsbedarf ist die realitätsferne Vorgabe, alle Kommu­nikation zwischen Aufsichtsrat und Vorstand sollte über den Aufsichtsratsvorsitzenden und den Vorstandsvorsitzenden laufen. Oder die weltweit einzigartigen deutschen Ad-Hoc-Vor­schriften, die beispielsweise bei wichtigen Personalentscheidungen selbst an Wochenenden - also bei geschlossenen Märkten - de facto Live-Meldungen vor der formellen Entscheidung erzwingen und damit oft das Auf­sichtsrats-Plenum präjudizieren.

Und auch das letztlich höchste Organ einer AG, die Hauptver­sammlung, könnte besser eingebunden werden, wenn wir die bei uns so extensive Anfechtungspraxis hinterfragen würden. So wäre es etwa möglich, sie nach dem Vorbild der Schweizer Rechtsprechung auf Kernthemen zu be­grenzen.

Eine gute gelebte Governance bedarf einfacher, realitätsnaher und bedarfsgerechter Regeln und sollte nicht von der Bereitschaft Einzelner abhängen, sich in rechtlichen Grauzonen zu bewegen. Doch bis es dazu kommt, müssen die Verantwortlichen eben das Beste aus dem bestehen­den System herausholen.

 

Meine Damen und Herren,

ich habe heute versucht darzustellen, wie ein moderner Aufsichtsrat und aus meiner Sicht aufgestellt sein und arbeiten muss und wie das Verhältnis zum Vorstand aussehen sollte. Es sollte dabei aber auch klar geworden sein, dass es Reformbedarf gibt. Gesetz und Realität sind nicht im Einklang.

Wie bereits angedeutet: An den Grundpfeilern der deutschen Unternehmensordnung mit einem zweigliedrigen System und der Mitbestimmung würde ich auf keinen Fall rütteln. Bei­des halte ich eher für Segen denn Fluch, die Abgesänge auf das deutsche System finde ich deplatziert: Ja, es ist etwas formalistisch und behäbig. Aber die klar abgegrenzten Zu­ständigkeiten und der Fokus auf Gremien statt auf Individuen sind wichtige Vorteile gegen­über dem einstufigen angelsächsischen System – insbesondere in Krisenzeiten.

Machen wir uns nichts vor: Wenn etwas schiefgeht, dann entstehen auch im angelsächsischen System schnell Gräben zwischen Executives und Non-Executives. In Wahrheit verwandelt sich das eingliedrige System in der Krise also in ein zweigliedriges. Das allein zeigt schon die Berech­tigung und Sinnhaftigkeit des deutschen Modells.

Gleichzeitig habe ich darüber gesprochen, welche Änderungen nötig wären, damit deutsche Aufsichtsräte besser arbeiten können. Wenn ich dies in drei Wünsche zusammenfassen müsste, dann wären das diese:

Ganz oben auf meiner Liste steht, deutsche Aufsichtsräte zu verkleinern. Wie bereits erwähnt, führen die gesetz­lichen Vorgaben für mitbestimmte Unternehmen zu einer Gremiumsgröße, die sinn­volle Diskussionen und schnelle Entscheidungsprozesse erschwert. Teile der Arbeit in Ausschüsse zu verlagern, kann das Problem zwar abmildern, aber nicht lösen.

Zweitens wünschte ich mir, dass das deutsche Aktienrecht an die praktischen Anforderungen in Unternehmen angepasst wird. Die realitätsferne Vorgabe, dass der Großteil der Kommunikation zwischen Auf­sichtsrat und Vorstand nur über die Vorsitzenden erfolgen soll, ist nur ein offensichtliches Beispiel. Dass es außerdem praktikable und wettbewerbsfähige Ad-hoc-Regeln braucht und die exzessiven Anfechtungsmöglichkeiten deutscher Hauptversammlungen begrenzt werden sollten, möchte ich hier noch einmal betonen.

Mein dritter Wunsch geht nicht an die Politik, sondern die Unternehmen: Sie sollten weiter in die Professionalisierung ihrer Aufsichtsräte investieren. Wir haben seit der Jahrtausendwende zweifellos Fortschritte bei der Besetzung der Gremien gemacht – darauf müssen wir aufbauen, um den immer höheren Erwartungen von Investoren- und Regulatorenseite gerecht zu werden.

Das wären meine Wünsche, die sich gar nicht so schwer umsetzen ließen, wohl aber die Arbeit deutscher Aufsichtsräte erheblich verbessern würden. Denn das ist es, was ich Ihnen heute aufzeigen wollte: Es hat sich viel getan, was die Qualität unserer Kontrollgremien an­geht. Aber es gibt auch noch einigen Raum nach oben.

Und weil dieses Thema so wichtig ist, möchte ich zum Schluss noch einen weiteren Wunsch äußern:

Corporate Governance darf nicht Dritten überlassen werden.

Ich möchte nicht nur unsere Gesetzgeber, sondern uns alle in die Pflicht nehmen: Während die deutsche Wirtschaft mit der Corporate Governance Kommission seit der ersten Veröf­fentlichung unseres Kodexes 2002 bis zur letzten Aktualisierung im Dezember 2019 schon viel erreicht hat, sehen wir zunehmend, dass das Engagement von deutscher Seite schwindet – auf natio­naler, aber auch auf internationaler Ebene. Und das nicht erst seit gestern.

Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie schwer es war, einen Nachfolger zu finden, als ich 2009 aus der Corporate Governance Kommission ausschied. Das hat mich damals schon schockiert. Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Wie können wir darüber klagen, dass unsere Unternehmensführung verbesserungswürdig ist, wenn wir nicht selbst aktiv werden? Statt es selbst in die Hand zu nehmen, überlassen wir es Dritten, unsere Gover­nance zu verbessern – und sei es, indem uns ausländische Fondsgesellschaften vorschrei­ben, was gute Corporate Governance sein soll.

Wirksame Corporate Governance und damit eine wirksame Aufsichtsratsarbeit, meine Da­men und Herren, kann nur funktionieren, wenn wir uns für sie einsetzen und sie leben – und das jeden Tag und nicht nur in Krisenzeiten. Es sind die guten Zeiten, in denen wir die Grundlage dafür legen müssen, dass wir in schlechten Zeiten widerstandsfähige und gut ge­führte Unternehmen haben. Oder, um positiv zu enden, dass diese wettbewerbsfähig und zukunftsorientiert bleiben.

Konferenzen wie diese können hierbei ein wichtiges Forum für den Austausch von Gedan­ken und Ideen sein. Deshalb bedanke ich mich ganz besonders, dass ich heute hier sprechen durfte.

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