Martin Stuchtey

„Es ist zu spät, um Pessimist zu sein“

Technologie ist unser bester Verbündeter gegen die Klimakrise, meint Martin Stuchtey, Professor für Ressourcenmanagement und Gründer der Landbanking Group. Doch um einen Systemwandel kommen wir nicht herum. Unsere Chance: Verantwortung annehmen, Wohlstand neu denken und die Hebelkraft der Wirtschaft nutzen.

Martin, wie ich hier in unserem Online-Call sehe, sitzen Sie auch im Homeoffice und frieren? Mit der Energiekrise merkt jeder ganz unmittelbar, dass das Klimaproblem im eigenen Leben ankommt.

Jetzt wird es real. Was wir erleben, ist eine völlig neue Erscheinungsform des Problems. In Zoomkonferenzen überbieten wir uns jetzt mit unseren Pudelmützen. Wir wussten immer, dass die erforderlichen Veränderungen sehr tief gehen würden, dass es ein struktureller Bruch sein wird, der Übergang in eine völlig neue systemische Logik. Und wir hatten erwartet, dass die Übergangsphase ruppig sein wird.

Allerdings wussten wir nicht, in welchem Gewand der Wandel daherkommt. Und wir wussten nicht, wie grundlegend unsere Lebensgewohnheiten durchgeschüttelt werden. Die Energiekrise, Lieferkettenunterbrechungen und Angebotsinflation geben uns nun einen Vorgeschmack darauf.

Sie selbst sagen, wir seien technologisch in der Lage, das Klimaproblem zu lösen, sogar ohne massive Wohlstandsverluste. Doch die Zeit laufe uns davon. Grundsätzlich sind Sie aber optimistisch?

Wir haben einige Freunde bei dieser Transformation. Die Regenerationskraft des Planeten, die Kreativität offener Gesellschaften. Kurzfristig ist aber Technologie unser bester Freund. Sie ist eine notwendige, aber eben keine hinreichende Bedingung für eine schnelle Transformation.

In einigen Bereichen kann man sehen, wie kraftvoll Technologie als Veränderungstreiber sein kann: Nehmen wir die globale Energiewende. 2015, im Jahr des Pariser Klimaabkommens, waren null Prozent der erforderlichen Technologien – erneuerbare Energien, Speicherung, Elektromobilität, grüner Wasserstoff, grünes Ammoniak, grünes Ethanol, digitale Netzsteuerung – im Status kommerzieller Marktreife. Heute ist ungefähr ein Viertel markttauglich und kommerziell konkurrenzfähig. Und wir erwarten, dass dieser Anteil im Jahr 2030 vielleicht schon bei drei Viertel liegen wird.

Technologie schafft Momentum.

Das heißt, wir werden geschoben von einer unglaublich starken technologischen Welle. Sie macht es auch leichter zu glauben, dass die Energieknappheit, die uns jetzt geopolitisch ins Haus steht, in eine beschleunigte Energiewende übersetzt werden kann. Technologie schafft Momentum.

Gibt es den sogenannten Putin-Effekt der beschleunigten Energie- und Klimawende wirklich?

Langfristig wird es ihn geben. Es lässt sich argumentieren, dass durch den aktuellen Konflikt der sogenannte Peak Fossil, also der Höhepunkt der Nutzung fossiler Energien, um zwei bis drei Jahre nach hinten geschoben, aber der Ausstieg (die sogenannten Phase-Down Szenarien) um deutlich mehr Jahre vorgezogen wird. Grund dafür: Der Konflikt ist eingetreten zu einem Zeitpunkt, zu dem die Konkurrenzfähigkeit von alternativen zu fossilen Brennstoffen gegeben ist. Auch das Flüssiggas LNG ist im Augenblick ökonomisch nur eine Brücke, weil Erneuerbare so attraktiv geworden sind. Wenn uns das vor 10 Jahren erwischt hätte, wäre es das Ende der Energiewende gewesen. Jetzt wird es langfristig ein Beschleuniger sein.

Aber es geht um viel mehr als Energie…

Das ist richtig: Wir müssen nicht nur unseren Energiesektor umbauen, sondern das weltweite Wirtschaftsmodell, den Industriesektor, den Ressourcensektor, den Landnutzungssektor. Bei deren Transformation steht etwas Vergleichbares noch aus. Da fehlen uns nach wie vor die notwendigen Technologien.

Martin Stuchtey and plastic marine pollution

In Summe muss man aber sagen, wir wären in der Lage, mit dem erwartbaren Technologiebestand einen großen Teil des Problems zu lösen – werden es aber nicht tun, wenn wir nicht zu einer ganz anderen Form der Marktsteuerung übergehen. Wir müssen als Gesellschaften und Ökonomien einen völlig neuen Wertebegriff definieren und unseren Zielkompass neu einstellen: Was ist eigentlich Wachstumserfolg, was ist Wohlstandserfolg? Wir müssen Wohlstanderfolg als die Summe der Zuwächse aus produziertem, Human- und Naturkapital verstehen. Nur dann haben wir ausreichend Anreize, Ausgaben für die Steigerung von Natur- und Humankapital als Investition zu verstehen.

Einer Studie zufolge rechnen sich vier Fünftel der volkswirtschaftlich sinnvollen Investitionen in dringend notwendige Transformationsmaßnahmen für den individuellen Investor nicht.

Aus dem jetzigen Kontext heraus gedacht ist es in der Tat so, dass ein Teil der erforderlichen Investitionen – wir sprechen von einer weltweiten Finanzierungslücke von zwei Billionen US-Dollar pro Jahr – über die Kapitalmärkte nicht abzudecken ist.

Wenn Investoren eine ernsthafte Risikoabwägung treffen würden, müssten sie sich zwischen Unsicherheit 1 und Unsicherheit 2 entscheiden. Auf der einen Seite steht jene Unsicherheit, die mit unerprobten Technologien und neuen Geschäftsmodellen einhergeht, wenn man alle Jetons auf die Energiewende, die Industriewende, die Mobilitätswende, die Landnutzungswende setzt.

Die Kapitalmärkte preisen diese Unsicherheiten nicht in der notwendigen Konsequenz ein. Schon sehr bald aber werden sie es tun müssen.

Auf der anderen Seite steht Unsicherheit 2, die darin besteht, bald auf einem riesigen Berg von Stranded Assets zu sitzen, wertlos gewordenem Vermögen. Darauf müssten wir doch schauen, wenn wir merken, dass viele der Prognosen, die uns die Wissenschaft und die Politik liefern, wirklich wahr sind. Und auf diese Art und Weise ganze Geschäftsmodelle, ganze Industriezweige, ganze Infrastrukturkategorien massiv unter Druck geraten.

Ich glaube, dass die Kapitalmärkte diese Unsicherheiten nicht in der notwendigen Konsequenz einpreisen. Schon sehr bald aber werden sie es tun müssen.

Sind unsere Kapitalmärkte denn so verfasst, dass sie sich an derart langfristigen Zielen orientieren?

Unsere aktuelle Marktordnung macht die Investition in diese langfristigen Güter und Infrastrukturen schwierig. Es fehlt uns eine Reihe von fundamentalen Anreizen – dazu gehört ein berechenbarer CO2-Preis, dazu gehört eine klare Regelung, welche heute externen Kosten der Produzent dauerhaft selber tragen muss, um die Lasten nicht der Gesellschaft aufzubürden. Dazu gehören Taxonomien. Dazu gehören auch neue Regeln im Welthandel, damit wir aus der Spirale des interregionalen Lohn- und Preisdumpings herauskommen.

Es gibt zum Beispiel die Idee der EU, einen Klima-Grenzausgleich einzuführen, ein sogenanntes Carbon Border Adjustment. Aber wir sind noch sehr weit von einem kohärenten Regelungsrahmen entfernt, der Anlegern eben den nötigen Rahmen und die Anreize gibt, die Zwei-Billionen-Dollar-Lücke zu schließen.

Evidenz scheint nicht zu reichen. Die Effekte des Klimawandels sind ja offensichtlich, die Zahlen liegen auf dem Tisch, dennoch findet kaum Bewegung statt. Wer sitzt denn hier am größten Hebel?

Natürlich ist es die Politik. Wir kommen aus einer wirtschaftlichen Realität, in der uns in erster Linie Verteilungsfragen beschäftigt haben. Nun müssen wir uns eher mit Zukunftsfragen beschäftigen. Genauer: Wie sieht ein zukünftiges Wertgenerierungsmodell aus? Auch die Wirtschaft versteht, dass es eine Frage gibt, die viel wichtiger ist als die nach der nächsten Umweltauflage, die eventuell Kosten erzeugt. Diese Kernfrage lautet: Wie wachsen wir in ein System hinein, in dem wir als Unternehmen weiterhin profitabel existieren und agieren können?

Die Kernfrage lautet: Wie wachsen wir in ein System hinein, in dem wir als Unternehmen weiterhin profitabel existieren und agieren können?

Und da ist es zu einer heimlichen, wenn auch noch nicht produktiven Allianz gekommen von Unternehmen die sagen: Wir brauchen diese Klarheit, diese neue Marktordnung, weil wir sonst gezwungen werden, an unseren strategischen Zielen vorbei zu investieren. Denn das, was wir strategisch längst beschlossen haben, können wir gar nicht umsetzen, weil es unter den aktuellen Rahmenbedingungen finanziell nicht machbar ist und wir es unseren Aktionären nicht erklären können. Die Fähigkeit der Politik, hier schnell einen verlässlichen Regelungsrahmen zu schaffen, wird sich direkt in einen Wettbewerbsvorteil übersetzen.

Da leben wir in einer fast greifbaren Dissonanz zwischen strategisch Verstandenem und Gewolltem und kapitalmarktlich Gefordertem. Und so ist die Wirtschaft geradezu zum Treiber der Politik geworden, indem sie fordert: Helft uns, in eine Marktlogik zu kommen, in der wir wieder strategisch handeln können. Die Politik hat eine riesengroße Chance das aufzunehmen.

Die scheint leider gerade mit ganz anderen Themen beschäftigt.

Ich glaube, dass auch der geopolitische Konflikt, den wir gerade erleben, die Möglichkeit schafft – auch wenn wir das aus dem täglichen Lärm mitunter nicht heraushören. Wir erleben eine Blockbildung in der Welt, was für absehbare Zeit eine politische Konfrontation erzeugt, aber eben auch eine Ressourcenkonkurrenz, die prägend sein wird für die kommenden Jahre.

Es wird ein Net-zero-Ressourcen-Wettbewerb sein, in dem wir antreten, den Brennstoff für die nächste Ökonomie zu finden. Und das sind erneuerbare Energien und ihre Derivate, wie grüner Wasserstoff, nachhaltige Biomasse, Rezyklate, das sind auch die funktionalen Metalle, die wir für die Energie- und Mobilitätswende brauchen. Das ist der Stoff, aus dem die Zukunft gemacht wird.

Wenn wir uns damit eindecken wollen, haben wir genau zwei Möglichkeiten: auf der einen Seite natürlich, neue Partnerschaften abzuschließen, zB mit afrikanischen Ländern. Aber weit mehr Potenzial liegt darin, unsere Wirtschaft umzubauen, indem wir sie kreislauffähiger und damit resilienter machen. Vor allem aber darin, ein dematerialisiertes neues Wohlstandsmodell zu bauen. Das war bisher immer nur ein Traum. Jetzt haben wir einen in seiner Konkretheit nicht zu überbietenden Druck, den Übergang zu schaffen – nicht nur aus einer ökologischen und klimapolitischen Verantwortung heraus, sondern insbesondere aus einer Wohlstandsverantwortung heraus.

Sie sagen, Unternehmen seien schon viel weiter, treiben die Politik – ist das eine sehr westliche Sicht?

Alle global handelnden Konzerne sind im Augenblick in einer fürchterlichen Falle gefangen: Auf der einen Seite müssen sie versuchen, die Anforderungen ihrer Aktionäre zu erfüllen. Gleichzeitig merken sie, dass sie mehr und mehr im Risiko stehen in ihren unterschiedlichen Märkten. Im Spannungsfeld zwischen Ausbauaktivitäten in China und Reinvestitionen in unsere europäische Dekarbonisierung. Zwischen Kostendruck in den Wachstumsmärkten, aber gleichzeitig der Vermeidung von Plastikmüll.

Unternehmen stehen auf sehr dünnem Eis.

Unternehmen stehen auf sehr dünnem Eis, und die einzige Möglichkeit wieder Sicherheit und Planbarkeit zu erzeugen, ist die Schaffung von nationalen und internationalen Regelungswerken. Diese erlauben uns, nach langfristigen Spielregeln zu spielen, ohne immer wieder angegriffen zu werden von denjenigen, die sich nicht an dieselben Regeln halten müssen.

Stichwort Systemtransformation: Wie müssen Märkte denn gestaltet sein? Ist „Wachstum mit Verantwortung“ überhaupt möglich?

Das ist ein dickes Brett. Brauchen wir Degrowth, Wachstumsrückgang? Richtig ist: Wir sind im Augenblick mit dem falschen Cockpit unterwegs. Das jetzige Wachstumsmodell wird uns nicht mal in die Nähe von Net-Zero bringen. Politisch scheint es schwierig, in den wenigen verbleibenden Jahren unsere gesamte makroökonomische Steuerung umzustellen. Und auch logisch ist es natürlich problematisch, wenn wir weniger von etwas haben wollen, was wir als Konstrukt „Wachstum“ in Summe in Frage stellen.

Ich glaube, es gibt eine Alternative, die konsistent ist mit unserem Bedürfnis nach Wachstum. Das ist die Idee der sogenannten Kapitalien, der Capitals. Die Grundidee ist, nicht mehr zu glauben, dass wir jedes Jahr dreieinhalb Prozent Zuwachs bei produzierten Gütern und Dienstleistungen nachweisen müssen und dies dann korreliert mit allem, was wir uns wünschen – mehr Beschäftigung, mehr Einkommen, ein besseres Leben. Sondern dass wir Kapital breiter definieren: Wir nehmen die Summe aus produzierendem Kapital, aus Humankapital und aus Naturkapital – und die jährliche Verbesserung dessen, das ist Wohlstand.

Wohlstand ganz neu gedacht. Lässt sich das in unserer Gesellschaft auch mit Leben füllen?

Ich versuche – nach sechs Jahren mit Systemiq, in denen wir gezeigt haben, wie Systemwandel gedacht werden kann – jetzt als Unternehmer mit der Landbanking Group ganz konkret zu zeigen: Wie muss die Infrastruktur für eine solche Wohlfahrtsgesellschaft aussehen?

Wir geben dem ultimativen Asset, der knappsten Ressource des 21. Jahrhunderts, nämlich Land und Natur, einen Wert. Indem wir Quadratmeter für Quadratmeter mit modernster Technologie bewerten und die ökologische Werthaltigkeit von Boden, Wasser, Biodiversität und Klima feststellen. Wir schaffen Ökosystemkontrakte zwischen Landwirten, Forstwirten und anderen Land-Treuhändern und gestalten sie so, dass sie aktivierungsfähig und verbriefbar sind, so dass man in die Vitalität von Ökosystemen investieren kann. Natur zu einem Asset zu machen und unsere Kapitalströme da hineinzulenken – damit hätten wir eines der dicksten Probleme geknackt, die es zu knacken gibt, nämlich die Landnutzungswende. Darin stecken nicht nur 14 Gigatonnen vermiedenes CO2, darin steckt auch die gesamte globale Gerechtigkeitsfrage, und darin steckt die Biodiversitätsfrage, die wir alle überhaupt nicht diskutieren und die uns als erste um die Ohren fliegen wird.

Wir können ein völlig neues Wert- und Wohlstandsnarrativ schaffen.

In einem solchen Modell lassen sich all die Herausforderungen abbilden und wir können ein Lösungsangebot machen. Indem wir sagen, eine gesunde Umwelt ist extrem wertvoll und investitionswürdig, können wir ein völlig neues Wert- und Wohlstandsnarrativ schaffen.

Und trotzdem werden wir Verbraucher weiter konsumieren wollen...

Wir müssen grundsätzlich unsere Ökonomie nicht mehr als Produktökonomie verstehen, in der ich ein Produkt, sagen wir: ein Shirt, haben will, sondern als Leistungsökonomie, in der ich einen Nutzen will, nämlich ein Shirt tragen. Damit können wir radikal Produkt und Ökonomie entkoppeln. Das funktioniert auf allen Ebenen, auch für Konsumgüter. Meine Töchter leihen sich z.B. ihre Klamotten, ohne damit an Coolness oder gesellschaftlicher Akzeptanz zu verlieren, und auch ohne sich damit materiell als schlechter gestellt zu erleben. Ganz im Gegenteil, sie empfinden das als befreiend, als einen Gewinn an Möglichkeiten – sie können schneller tauschen, lernen Leute kennen, sind Teil eines Netzwerks etc.

Der gleiche Mechanismus gilt für die neuen Infrastrukturen – das ist ja viel mehr als Energie und Transport. Die Wissenschaft sagt uns: Die ultimative Infrastruktur ist die Funktionsfähigkeit des Planeten Erde. Wenn die kaputt geht, können wir hier nicht mehr leben.

Wir müssen dazu kein Land aufkaufen. Wir müssen mit dem Anbieter von Naturdiensten, also dem Treuhänder von Natur, Verträge schließen, so wie wir bislang beispielsweise mit dem Anbieter von Transportleistungen Verträge geschlossen haben. Diese Verträge müssen vertrauenswürdig und langfristig sein, denn die Leistung schafft langfristig Wert, sie schafft Wohlstand, ein gutes Leben. Damit kann auch diese Ressourcenrevolution stattfinden – ohne dass man das Konzept der Wohlstandsgesellschaft aufgeben muss. Ohne dass das jemand als Rückschritt empfindet und wir uns durch Verteilungskämpfe und bräsige Degrowth-Debatten quälen müssen. Es ist immer noch mit einem positiven Wohlstandsnarrativ verbunden.

Gleichzeitig fordert dieses neue Narrativ eine Bereitschaft zum schnellen Umdenken. Fehlt es noch am Bewusstsein für diese Dringlichkeit, obwohl doch jeder wissen kann, wie wenig Zeit bleibt?

Es ist zu spät, um Pessimist zu sein. Wir sind von einer brüchigen Gesinnungsethik mitten hinein in eine Verantwortungsethik geworfen worden. Wir sind zurückgeworfen auf die Verantwortung, die wir tragen, die jeder einzelne trägt, und die ist proportional zu unseren Möglichkeiten. Die liegt beim CEO und beim Politiker, aber auch beim Elftklässler und beim potenziellen Klimakleber. Angesichts unserer Lage reicht es nicht mehr, einfach nur nach den Regeln zu spielen. Jeder muss jetzt auf Sieg spielen, und dazu gehört insbesondere, dass viele Wirtschaftsführer diese Verantwortung auch annehmen.

 Angesichts unserer Lage reicht es nicht mehr, einfach nur nach den Regeln zu spielen. Jeder muss jetzt auf Sieg spielen.

Das erste Gesetz des Systemwandels ist, dass man immer alle braucht: Es braucht die Konsumenten, um die Produzenten zu drangsalieren, und es braucht die Produzenten, um den Konsumenten Optionen zu geben, es braucht die Politik, um das Feld für die Produzenten abzustecken, es braucht die Produzenten, um der Politik zu zeigen, sie kann ruhig mutiger sein und weiter gehen. Es braucht die ganze Dynamik: die Zivilgesellschaft, damit sie uns zur Ehrlichkeit zwingt, eine Wissenschaft, die uns Klarheit schafft, was die Konsequenzen des Nicht-Handelns wären, eine Politik, die bereit ist, sich von der Wissenschaft auch führen zu lassen. Alle Akteure müssen ihr Bestes geben. Das geht über Vorbilder, und über das Empfinden des Zusammenhalts in einer zunehmend polarisierten Welt.

Ist das eine Ruck-Rede: an Europa, an den Westen?

Wir haben uns in eine fürchterliche Notlage gebracht, dass wir so lange gewartet haben mit der Auflösung der großen strukturellen Herausforderungen. Klima, Biodiversität, gesellschaftliche Spaltung, Nord-Süd-Konflikt, Annäherung an China und Russland, all diese Fragen haben wir einfach vertagt, weil sie so schwierig waren.

Mit dem Ukrainekrieg sind uns ziemlich viele Träume kaputt gegangen. Alle Prämissen, mit denen unsere Generation groß geworden ist: soft power, Wandel durch Handel, Entwicklung zu einem liberalen Gesellschaftsmodell. Wir in Europa haben gedacht, die ganze Welt findet das toll. Aber dieses Modell hatte ganz offensichtlich keine ausreichend positive Strahlkraft. Jetzt braucht es nicht nur das Bekenntnis zum Green Deal, zur Dekarbonisierung, zu unseren liberalen Werten. Jetzt müssen wir auch zeigen, dass wir es hinkriegen.

Und das funktioniert nur über ein positives Zukunftsbild. Wir haben es bislang geschafft, jedes positive Zukunftsbild zu zermahlen. Aber der Gedanke, dass wir unser liberales Gesellschaftsmodell verteidigen müssen, der hat Zugkraft. Unseren Lebensstil wollen wir schon alle behalten. Um diesen Kern müssen wir uns sammeln.

Wie wollen Sie denn all die genannten Akteure anschieben? Unterschriften unter Agreements ändern ja noch nichts. Was ist der erste konkrete Schritt?

Banken haben einen immensen Hebel und eine immense Verantwortung. Jeder von uns, jedes Unternehmen, jede Bank ist auf eine gelingende Gesellschaft angewiesen, und da kann man zu einigen Frage nicht neutral bleiben. Wenn jemand erklärt, wir können es uns nicht leisten, das Thema ESG großzuschreiben – nicht aus einem sachlichen, sondern aus einem rein politischen Kalkül heraus –, dann ist das Führungsversagen. Es ist ja absolut absehbar mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 Prozent, dass die Institution und die Aktionäre heute in zehn Jahren mit den Ergebnissen solch einer Entscheidung konfrontiert werden. Am Schluss kriegt man immer den Täter. Und die Tatsache, dass wir der Verantwortung entflohen sind, wird zu Konsequenzen führen.

Ist der größte Hebel also doch der Leidensdruck? Vielleicht ist der noch nicht groß genug. Und wenn er groß genug ist, ist es möglicherweise zu spät, Stichwort Kipppunkte.

Es liegt in unserer Macht. Könnte die Technologie es? Ja. Könnten die Kapitalmärkte es? Ja. Kann man ein Regelwerk erdenken, das diese Entwicklung stützt? Ja. Das Hauptthema ist: Wir müssen uns sehr schnell auf ein neues Zielbild einigen. Woran messen wir unser Wohlergehen? Wenn man das wirklich durchdenkt, ist das so groß wie ein zweiter Humanismus, eine zweite Aufklärung. Was ist eigentlich gelingende Gesellschaft, und was ist der Weg, um da hinzukommen? Wie wollen wir leben, was ist uns wichtig, was macht uns glaubwürdig? Und das überlegen wir uns nicht, ohne dass wir in den Grundfesten durchgerüttelt werden. Genau das passiert gerade.

Und kommen wir da heil heraus?

Es ist machbar und möglich, und es ist unsere Entscheidung.

Der entscheidende Unterschied könnte sein, dass wir nicht wie die Aufklärung ein Jahrhundert zur Verfügung haben, sondern nur noch zehn Jahre.

Jeder von uns ist ein Change Agent – wir sind es, die die Veränderung betreiben und leben müssen. Wir müssen eben verantwortungsbewusst handeln. Vielleicht ist das die einzige Unterscheidung, die man überhaupt noch treffen sollte. Statt zu unterscheiden in Nord – Süd, arm – reich, Ost – West, rechts – links zu fragen: Steht hier jemand, der verantwortlich handelt? Oder steht da jemand, der unverantwortlich handelt? Die, die mit einem Verantwortungsbewusstsein handeln, das über sie selbst hinausgeht, das sind die Krieger des Lichts. Und die zusammenzuführen und die Gräben zuzuschütten, das ist wertvoll.

Statt zu unterscheiden in Nord – Süd, arm – reich, Ost – West, rechts – links müssen wir fragen: Steht hier jemand, der verantwortlich handelt?

Dieses Interview wurde geführt von Maike Tippmann.

Link zur Studie

Martin Stuchtey im Gespräch

Über Martin Stuchtey

Martin ist Gründer von SYSTEMIQ und der Landbanking Group. Davor war er 20 Jahre bei McKinsey tätig, zuletzt als Direktor des Center for Business and Environment. Viele Jahre lang war er strategischer Berater des Weltwirtschaftsforums WEF. Er ist Professor für Ressourcenstrategie und -management an der Universität Innsbruck und stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums der Alfred Herrhausen Gesellschaft.

Martin ist Autor zahlreicher Bücher, u.a. „A Good Disruption – Redefining Growth in the Twenty-first Century“ und „Breaking the Plastic Wave“. Er hat Abschlüsse von Universitäten in Südafrika, Deutschland und UK. Martin ist Vater von sechs Kindern, Biobauer und begeisterter Alpinist.

Martin Stuchtey und Meeresverschmutzung durch Plastik

Über Systemiq

Systemiq versteht sich als System Change Company, Unternehmen für Systemwandel. Mit Sitz in London, München, Jakarta, Amsterdam, Paris, Brüssel und Sao Paolo hat es sich dem Aufbau einer Wirtschaft verschrieben, die Wohlstand für alle schafft, das Klima stabilisiert und die Natur für kommende Generationen regeneriert. Im Zentrum steht das Ziel, den Übergang zu zirkulären Industriesystemen zu beschleunigen und die Transformation von fünf Systemen zu skalieren, die unser Leben und Arbeiten prägen: Energie, Natur und Ernährung, Materialien, Entwicklung urbaner Gebiete und Finanzen.

Systemiq ist als B Corporation zertifiziert und gehört damit zu jenen Unternehmen, die die Hebelwirkung der Wirtschaft nutzen, um soziale und ökologische Probleme zu lösen.

Mitglieder der Landbanking Group

Über die Landbanking Group

Die Landbanking Group hat es sich zum Ziel gesetzt, Natur im planetarischen Umfang zu restaurieren, in dem sie zu einer attraktiven, investierbaren Anlage wird. Für diesen neuen, dringend erforderlichen Markt baut sie die Vertrauensinfrastruktur. Auf Basis neuster Erdbeobachtungstechnologie kann jeder Quadratmeter in Bezug auf Biodiversität, Wasser, Kohlenstoff und Böden bewertet und mit einem Naturkapitalkonto ausgestattet werden. Daraus werden aktivierbare und handelbare Assets, die es Unternehmen und Investoren erlauben, natur-positiv zu werden.

Maike Tippmann

Maike Tippmann

… verantwortet im Newsroom der Deutschen Bank digitale Kommunikationsprojekte und fand es immer beruhigend, der Innovationskraft der Menschheit zu vertrauen. Seit sie verstanden hat, wie brachial der Klimawandel schon bald unser aller Leben verändern kann, weiß sie, es braucht sehr viel mehr als das.  

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