Höchste Eisenbahn
Der Verkehrssektor trägt zu einem großen Teil unserer weltweiten Treibhausgasemissionen bei. Der Zughersteller Alstom will das ändern. Und setzt im Kampf gegen CO2-Ausstoß auf Wasserstoff.
Fortbewegung ist ein wichtiger Teil unseres Alltags. Aber wie können wir längere Strecken zurücklegen, ohne den Klimawandel zusätzlich anzuheizen? Laut dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen produziert der Verkehrssektor ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen. Sie zu verringern ist entscheidend, um die Erderwärmung zu stoppen. Aber wie? Die Elektrifizierung des Schienennetzes scheint auf der Hand zu liegen, aber sie ist nicht immer die beste Lösung.
Wir sprachen mit Brahim Soua, Vizepräsident der europäischen Schienenfahrzeug-Plattform unseres Kunden Alstom. Alstom ist Vorreiter bei Wasserstoff-Zügen. Soua ist sich sicher, dass Wasserstoff in naher Zukunft Dieselantriebe in die Geschichtsbücher verbannen könnte - zumindest auf der Schiene.
Sauber, leicht und gut zu transportieren
Wasserstoff hat viele Vorteile: Er ist leicht zu lagern und wiegt weniger als andere Brennstoffe und lässt sich leicht transportieren. Bei der Verbrennung hinterlässt Wasserstoff keinen Rückstand in der Luft, es entsteht lediglich Wasserdampf. Und der sogenannte grüne Wasserstoff, der mit Hilfe von Erneuerbaren Energien entsteht, ist in der Herstellung komplett kohlenstofffrei.
Das Potenzial früh erkannt
Alstom hat bereits 2014 das Potenzial von Wasserstoff erkannt. Wasserstoffbetriebene Züge sind nicht nur emissionsfrei und geräuscharm, sondern können auch relativ lange Strecken abdecken - insbesondere im Vergleich zu Zügen mit Elektrobatterien.
Sowohl Batterien als auch Wasserstoff hätten ihre Vorteile, erläutert Soua. Beide Technologien würden sich gut ergänzen, da jede jeweils für spezifische Situationen und Einsatzgebiete Vorteile hat. Beide Verfahren sind wichtige Schlüsseltechnologien wenn es darum geht, den Zugverkehr langfristig zu dekarbonisieren.
Sowohl Batterien als auch Wasserstoff werden benötigt, um die Schiene in Europa zu dekarbonisieren, und deshalb entwickelt Alstom beide Lösungen.
Alstoms wasserstoffbetriebener Zug Coradia iLint™
Wann Elektrifizierung keinen Sinn ergibt
Soua nennt insgesamt drei Möglichkeiten, CO2-Emissionen im Zugverkehr zu reduzieren. Erstens: Vollstromleitungen. Zweitens: die Teilelektrifizierung von Leitungen in Kombination mit Batterien, um Gleisabschnitte ohne Strom zu überbrücken. Und Drittens: reine Wasserstoff-Lösungen. Was am besten ist, hängt von der jeweiligen Situation ab. Während Batterien für Strecken bis zu maximal 150 Kilometern eingesetzt werden können, ist Wasserstoff die beste Alternative für längere Distanzen bis zu 1000 Kilometern - sofern eine Elektrifizierung nicht möglich oder wirtschaftlich sinnvoll ist. Es kostet zwischen eine und rund drei Millionen Euro, um einen Kilometer Strecke zu elektrifizieren.
Jungfernfahrt im Jahr 2018
Im Jahr 2016 stellte Alstom auf der Internationalen Fachmesse für Verkehrstechnik (InnoTrans) in Berlin erstmals seinen wasserstoffbetriebenen Zug „Coradia iLint“ vor. Nur zwei Jahre später, im September 2018, nahm das Unternehmen zwei Wasserstoffzüge kommerziell in Betrieb.
Deutschland ist derzeit führend, wenn es um wasserstoffbetriebene Züge geht. Und der Schienenverkehr ist laut eines Berichts der Beratungsfirma MarketsandMarkets der am schnellsten wachsende Markt für grünen Wasserstoff in Europa – mit einem Marktanteil von 58,6 Prozent im Jahr 2021. Aber auch andere Länder sind erpicht darauf, diese Technologie einzuführen und auszubauen.
So wird Alstom sechs Wasserstoff-Brennstoffzellen-Züge in die Lombardei liefern, acht weitere könnten folgen. Auch Tests in Österreich, Frankreich, den Niederlanden, Polen und Schweden verliefen erfolgreich. Außerhalb Europas hat Alstom mit Saudi-Arabien vereinbart, Wasserstoff-Züge zu entwickeln. Darüber hinaus haben die Vereinigten Staaten und Kanada ihr Interesse bekundet.
Öffentliche Förderung soll Tempo beschleunigen
Die Herstellungskosten für einen Wasserstoff-Brennstoffzellen-Zug sind derzeit noch um 25 bis 30 Prozent höher als beim Diesel-Gegenstück. Im langfristigen Gebrauch sind die Kosten dann aber geringer, erklärt Soua. Trotzdem brauchen Unternehmen Kapital, damit sie sich für Wasserstoff-Technologie statt Diesel entscheiden. Angesichts der drohenden Verbote für Diesel – die Deutsche Bahn zum Beispiel will diesen Kraftstoff für Lokomotiven bis 2040 vollständig untersagen – nimmt die Nachfrage zu.
Es gibt wirklich keine andere Lösung als die Entwicklung kohlenstoffarmer Technologien. In Zukunft geht es nicht nur darum, CO2 einzusparen, sondern auch um die Einhaltung der Rechtsvorschriften.
Viele Regierungen reagieren und bieten im Rahmen ihrer nationalen Wasserstoffstrategien Beihilfen an. In Deutschland etwa übernimmt die Regierung 40 Prozent der zusätzlichen Kosten für Wasserstoffzüge. Dies ist wichtig für die Planungssicherheit der Hersteller. Alstom zum Beispiel profitierte vom nationalen Innovationsprogramm der Bundesregierung für Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie (NIP), als es den iLint-Zug entwickelte.
Alstom ist zugleich Teil eines Vorzeigeprojektes der Europäischen Union („Important Project of Common European Interest“) im Bereich Wasserstoff, das Innovation und Forschung ebenso fördert wie die notwendige Infrastruktur und die erste gewerbliche Nutzung. Im September 2022 genehmigte die EU-Kommission staatliche Beihilfen in Höhe von 5,2 Milliarden Euro aus 13 Mitgliedstaaten für das Programm - ein Schritt, der weitere 7 Milliarden Euro an privaten Investitionen freisetzen könnte. Im selben Monat kündigte die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, eine europäische Wasserstoffbank an, die den Aufbau des Wasserstoffmarkts mit 3 Milliarden Euro unterstützen wird.
Partnerschaften sind entscheidend
Insbesondere beim Aufbau der Wasserstoff-Infrastruktur ist branchenübergreifende Kooperation wichtig. Ein Beispiel: Alstom produziert keinen Wasserstoff und baut auch keine Tankstellen. Durch die Partnerschaft mit dem deutschen Chemieunternehmen Linde und dem Nahverkehrsverbund LNVG in Niedersachsen konnte Alstom trotzdem das weltweit erste wasserstoffbetriebene Zugnetz aufbauen – es ging im August 2022 in Norddeutschland in Betrieb.
Das Netz besteht zurzeit aus sechs wasserstoffbetriebenen Personenzügen, weitere acht werden in den kommenden Monaten geliefert. Jeder Zug kann 1.000 Kilometer emissionsfrei mit einer einzigen Tankfüllung fahren. Nach Angaben des LNVG spart das Projekt jährlich 1,6 Millionen Liter Diesel und verhindert den Ausstoß von 4.400 Tonnen CO2.
Von Norden nach Süden: 1.175 Kilometer ohne Tanken
Einen Monat später demonstrierte Alstom, wie effektiv Wasserstoff-Züge auf der Langstrecke sein können: Der iLint fuhr von Bremervörde im äußersten Norden nach München – rund 1.175 Kilometer ohne Auftanken.
In einem anderen Projekt nutzt der hessische Regionalbahnbetreiber RMV seit Dezember 2022 Wasserstoff-Brennstoffzellen-Züge für einige Strecken außerhalb Frankfurts. Alstom wird hier insgesamt 27 Züge liefern – es wäre dann die bis dato größte Wasserstoff-Flotte der Welt.
Vom grauen zum grünen Wasserstoff
Aktuell ist Wasserstoff für die Züge noch nicht überwiegend grün – das heißt, er wird noch nicht überwiegend mit erneuerbaren Energien, sondern mit fossilen Brennstoffen hergestellt. Trotzdem liegen die Emissionen schon jetzt um 45 Prozent niedriger als bei Diesel, sagt Soua. Ziel ist es, den Anteil des grünen Wasserstoffs schrittweise zu erhöhen, der vor Ort durch Elektrolyse und mit Hilfe von Sonnen- oder Windenergie aus der Region gewonnen wird. Das Betankungssystem, das Linde entworfen hat, wäre dafür gerüstet.
Die Einleitung eines Projekts mit grauem Wasserstoff ist bereits eine gute Lösung. Sie reduziert Emissionen bereits um 45 Prozent im Vergleich zu Diesel. Je mehr grüner Wasserstoff produziert werden kann, desto besser – und Alstom ist diesem Ziel verpflichtet.
Je stärker sich grüner Wasserstoff durchsetzt, desto größer müssen die Elektrolysekapazitäten sein. Bei der Elektrolyse geht es darum, Strom durch Wasser zu leiten und das Wasser (H2O) in Sauerstoff und gasförmigen Wasserstoff zu trennen. Damit der Wasserstoff umweltfreundlich ist, muss der Strom aus erneuerbaren Energien wie Wind- oder Solarenergie stammen.
Die „Global Hydrogen Review 2022“ der Internationalen Energieagentur schätzt, dass durch mehr Elektrolyseure die Kosten bis 2030 um rund 70 Prozent sinken könnten. Wenn gleichzeitig die Kosten für erneuerbare Energien sinken, käme grüner Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Preisen auf den Markt.
Grünes Licht für Wasserstoff
Wasserstoff hat enormes Potential. Durch weitere Forschung und Innovation, staatliche Beihilfen und Investitionen in Infrastruktur und Produktion sind die Weichen in Richtung einer kohlenstofffreien Eisenbahn gestellt.
Über Alstom
Alstom ist ein weltweit agierendes Unternehmen im Transportsektor. Es entwickelt und vertreibt nachhaltige Mobilitätslösungen, die den Weg zu einer kohlenstofffreien Zukunft ebnen sollen. Das Produktportfolio von Alstom reicht von Hochgeschwindigkeitszügen, U-, Einschienen- und Straßenbahnen bis hin zu integrierten Systemen, kundenspezifischen Diensten, Infrastruktur, Signalsystemen und digitalen Mobilitätslösungen.
Jill Winter
… arbeitet als Redakteurin im Newsroom der Deutschen Bank. Sie ist beunruhigt darüber, was passiert, wenn die Wirtschaft nicht ernsthaft anfängt, Netto-Null-Ziele zu verfolgen. Sie interessiert sich für neue Technologien und deren Potenzial, eine Welt zu schaffen, in der es sich zu leben lohnt.
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