Viktoriya Brand und Markus Müller

„Wir leben über unsere Verhältnisse”

Woher sind die größten Impulse gegen das Artensterben zu erwarten – und welche Rolle können Banken spielen? Wir haben Viktoriya Brand und Markus Müller, ESG-Experten der Deutschen Bank, um eine Einschätzung gebeten.

Die jüngsten Zahlen zum Artensterben sind noch etwas düsterer als bislang angenommen. Mehr als eine Million Tiere und Pflanzen sind vom Aussterben bedroht, könnten also in den nächsten zehn Jahren von der Erde verschwinden. Gleichzeitig gibt es vereinzelt positive Signale: Bestände von Luchs, Berggorilla und Seeadler sind in einigen Regionen wieder angewachsen – Dank umfangreicher Schutzmaßnahmen.

Markus, was hat das Artensterben mit der Wirtschaft zu tun?

Markus Müller (MM): Wir wissen, dass das Artensterben und die Schädigung der Ökosysteme massive Folgen für uns Menschen haben, und damit auch auf unseren Wohlstand. Wenn wir es einmal ganz funktional betrachten: Wir brauchen intakte Ökosysteme für saubere Luft, sauberes Wasser und wir benötigen Insekten, die unsere Nutzpflanzen bestäuben. Schätzungen gehen davon aus, dass mehr als die Hälfte des globalen BIP, das sind in etwa 44 Billionen US-Dollar, in hohem Maße von der Natur und ihren Ökosystemleistungen abhängen. Die verbleibenden 50 Prozent sind damit nicht unabhängig von der Natur; diesen Gedankenfehler darf man nicht machen.

Besonders abhängig sind neben Landwirtschaft und Fischerei zum Beispiel die Bauwirtschaft, der Tourismus und der Bergbau. All diese Bereiche haben aber eben auch einen besonders negativen Einfluss auf die Natur.

Video: Ohne Biodiversität kein Wohlstand. Erklärt in 99Sekunden

Warum Naturschutz ein wesentlicher Faktor bei unseren Geschäftsentscheidungen werden muss – mit Markus Müller, Chief Investment Officer ESG, Deutsche Bank.  

Wir sägen also an dem Ast, auf dem wir sitzen?

MM: Im Grunde ja - wir leben über unsere Verhältnisse. Das liegt daran, dass Natur überwiegend ein öffentliches Gut ist, dessen systemische Bedeutung und langfristiger Wert vielfach nicht eingepreist ist in die Produktion von Waren und Dienstleistungen.

Wenn wir in wirtschaftlicher Hinsicht beispielsweise den Baum vor allem als Rohstoff für Produkte betrachten und nicht den Wert berücksichtigen, den der lebendige Baum als Schattenspender, Nistplatz oder Sauerstofflieferant hat, ist das im Grunde ein Marktversagen.  Wenn dauerhaft zu viel in die Natur eingegriffen wird, kann sie nicht mehr erholen. Zerstörte Ökosysteme sind die Folge. Damit steigt auch das geschäftliche Risiko, übrigens auch für uns Banken, beispielsweise wenn Kredite nicht mehr bedient werden können, weil Unternehmen für knappere Rohstoffe mehr Geld bezahlen müssen und Erträge zurück gehen.

Das Problem ist mittlerweile auch bei Unternehmen angekommen, wie der diesjährige Risiko-Bericht des Weltwirtschaftsforums zeigt. Da sehen eigentlich die Mehrheit der Entscheider Klimawandel und Biodiversitätsverluste als die größten langfristigen Bedrohungen für die Wirtschaft- übrigens sogar noch vor geopolitischen Krisen oder Umwälzungen durch künstliche Intelligenz. 

Die Weltnaturkonferenz in Montreal im Dezember 2022 galt für viele als Durchbruch für die Natur, vergleichbar mit dem Pariser Klima-Abkommen. Zu Recht?

Viktoriya Brand

Viktoriya Brand (VB): Das Bewusstsein, dass die Weltgemeinschaft zusammenarbeiten muss, um die Zerstörung der Natur und das Artensterben aufzuhalten, gibt es seit mehr als 30 Jahren. 

Bereits auf der UN-Konferenz in Rio 1992 wurden drei völkerrechtlich bindende Konventionen verabschiedet, darunter eine zur biologischen Vielfalt. Es folgten dann auf der Weltnaturkonferenz 2010 in Japan die sogenannten “Aichi Ziele” zur Wiederherstellung und zum Schutz der Natur. Keines der dort verabschiedeten 20 Ziele wurde in dem vorgesehenen Zeitraum von zehn Jahren erreicht.

Und wo stehen wir heute? Was spricht nun dafür, dass die neuen Beschlüsse von Montreal nicht wieder floppen?

VB: Es gibt nun tatsächlich erstmals ähnlich wie bei den Pariser Klimaschutzzielen ein globales Ziel für Natur. Bis 2030, also noch zum Ende dieser Dekade, soll Artensterben und Naturzerstörung nicht nur aufgehalten, sondern es soll eine Trendwende eingeleitet worden sein. Dazu sollen 30 Prozent der gesamten Erde und der Ozeane unter Schutz gestellt und jährlich durch die Staatengemeinschaft 200 Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt werden. Darauf haben sich immerhin 196 Nationen geeinigt. Das ist schon ein starkes Zeichen. Ähnlich wie bei der Bekämpfung der Klimakrise werden der Privatwirtschaft und den Banken eine große Bedeutung beim Erreichen der Ziele beigemessen- wobei wir aufpassen müssen, dass unsere Rolle nicht überfrachtet wird.

Hinzu kommt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema Klima und Natur mittlerweile viel breiter in der Öffentlichkeit diskutiert werden und Schäden und Katastrophen viel offensichtlicher sind. Wir sehen auch bereits, dass die Gesetzgebung ebenfalls nachzieht.

Das Umwelt-Programm der Vereinten Nationen (UNEP) schätzt, dass pro Jahr 546 Milliarden US-Dollar notwendig wären, um die wichtigsten Naturschutzziele zu erreichen. Welchen Beitrag kann die Privatwirtschaft leisten, um die Finanzierungslücke zu schließen?

MM: Ich persönlich mag den Begriff Finanzierungslücke nicht so sehr. Das klingt so, als müsste zusätzlich sehr viel Geld für neue Programme ausgegeben werden. Da schalten doch die meisten innerlich ab, gerade in Zeiten von insgesamt geringem Wirtschaftswachstum und anderen gleichermaßen essenziellen Investitionsbedarfen; sei es Gesundheit, Bildung oder Infrastruktur und Digitales. Es geht vielmehr in erster Linie darum, anders zu wirtschaften, und zwar so, dass wir die Natur nicht oder zumindest sehr viel weniger schädigen.

Ich kann das mit ein paar Zahlen verdeutlichen: Insgesamt nutzt die Wirtschaft natürliche Ressourcen in einem Gegenwert von 125-Billionen US-Dollar jährlich: dazu zählen Rohstoffe wie Holz, Sand, Wasser, seltene Erden, Fischereiprodukte, Agrarprodukte und vieles mehr. Wir bedienen uns also an dem, was die Natur uns gibt, ohne dafür eine Rechnung zu bekommen - zumindest nicht in finanzieller Hinsicht. 

Dadurch müssen wir für das meiste, was wir von der Natur bekommen, nicht das bezahlen, was es wert ist. Das ist das Grundproblem.

Ich mag den Begriff Finanzierungslücke nicht so sehr. Da schalten doch die meisten innerlich ab. Markus Müller

Wie sollte es stattdessen laufen?

Markus Müller

Wir müssen uns alle gemeinsam darauf einigen, dass wir den langfristigen Wert intakter Ökosysteme stärker in wirtschaftliche Entscheidungen, also in unsere Preise, einbeziehen. Langfristig geht es darum, dass alle Wirtschaftsbereiche, aber insbesondere diejenigen, die die stärksten Auswirkungen auf die biologische Vielfalt haben, neue und innovative Produktionsweisen entwickeln, die unsere Umwelt und die Natur weniger belasten. Hier gibt es in verschiedenen Branchen schon gute Beispiele, zum Beispiel in der Nahrungsmittelindustrie – aber auch in vielen anderen Bereichen können wir eine große Experimentierfreude beobachten.

Langfristig werden wir hier Wachstum sehen und alle, die früh dran sind mit Innovationen können sich einen Vorsprung erarbeiten. Gleichzeitig verringern Unternehmen damit natürlich auch ihre Abhängigkeiten und Risiken. Wichtig ist es aber natürlich auch, dass Subventionen in die richtige Richtung fließen.

Auf ungefähr 500 Milliarden Euro jährlich belaufen sich aktuell weltweit noch Steuererleichterungen und Beihilfen, die potenziell negative Auswirkungen auf die Natur und Ökosysteme haben. Das betrifft beispielsweise Subventionen in Landwirtschaft, Fischerei, Bergbau oder für Öl- und Gasförderung.

Das ist vier Mal mehr, als wir für Naturschutz ausgeben. Wenn wir uns die privaten Investitionen und Mittelflüsse ansehen, fällt der Unterschied noch krasser aus. Diese Entwicklung sollte umgekehrt werden.

Wo können private Banken wie die Deutsche Bank ansetzen?

VB: Privatbanken können an mehreren Stellen ansetzen. Wir können zum einen bei unseren Nachhaltigkeitszielen und nachhaltigen Klima-Finanzierungen darauf achten, dass die Projekte gleichzeitig auch auf Biodiversität positiv einzahlen.

Den größten Hebel haben wir grundsätzlich, wenn wir mit unseren Kunden aus der Realwirtschaft ins Gespräch kommen, damit sie ihren sogenannten Biodiversitäts-Fußabdruck verringern.

Den größten Hebel haben wir, wenn wir mit unseren Kunden aus der Realwirtschaft ins Gespräch kommen. Viktoriya Brand

Kannst du hier ein Beispiel geben?

VB: Ja, sicher. Wenn wir Kunden zum Beispiel dabei unterstützen, ihr Geschäftsmodell stärker auf Kreislaufwirtschaft auszurichten, also zum Beispiel einem E-Auto-Hersteller helfen, eine Batterie-Recycling-Anlage zu bauen, kann das dazu beitragen, dass die Firma weniger Rohstoffe einsetzt, deren Abbau teilweise mit hohen Umweltbelastungen verbunden sind. 

Es geht also darum, in unserem Kreditbuch zu schauen: Welche Geschäfte haben einen hohen Biodiversitäts-Fußabdruck – und wie können wir diesen Schritt für Schritt verringern.

Dafür benötigen wir aber Instrumente, die uns helfen einzuschätzen, welche Sektoren einen besonders starken Einfluss auf Ökosysteme haben, und ob Geschäftstätigkeiten beispielsweise in Biodiversitäts-Hotspots stattfinden.  Insbesondere in den vergangenen zwei bis drei Jahren ist hier im Zusammenspiel unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen viel an Instrumenten entwickelt worden. Grundsätzlich ist es aber komplexer als beim Klima-Thema. Das liegt daran, dass Biodiversität und Ökosysteme sehr lokal und gleichzeitig sehr divers sind – es gibt nicht die eine wichtige Messgröße wie CO2. 

Daneben haben wir auch Ausschlusskriterien: Unsere Richtlinie zum Schutz vor Entwaldung ist eine unserer ältesten Richtlinien im Bereich Nachhaltigkeit. Im Kern geht es darum, dass wir keine Geschäfte finanzieren wollen, die für die Abholzung tropischer Primärwälder verantwortlich sind.

Unterstützen wir Umweltschutz-Projekte auch direkt?

MM: Ja, unser Schwerpunkt liegt dabei auf dem Schutz der Ozeane. Wir nutzen dazu unseren Zugang zu vermögenden Kunden und Investoren, um Mittel gezielt in wissenschaftliche Forschung und Ozean-Schutzprogramme zu lenken. Die Leit-Frage ist: Wie können wir unsere Ozeane schützen und widerstandsfähiger machen - und gleichzeitig sicherstellen, dass Menschen, die vom Meer leben, ein gutes Auskommen haben.

Ein Vehikel ist dafür unser 2021 eingerichteter Deutsche Bank Ocean Resilience Philanthrophy Fund, aus dem wir bereits mehrere Projekte mittels Spenden unterstützt haben.

Die Deutsche Bank hat im vergangenen Jahr einen Natur-Beirat gegründet, dem ihr beide vorsitzt und dem auch externe Wissenschaftler angehören. Was war die Motivation dafür?

MM: Als ein weltweit agierendes Finanzinstitut gehen wir das Thema Natur – ähnlich wie das Thema Klima – ganzheitlich, strategisch und wissenschafts-basiert an. 

Und dabei hilft uns unter anderem der Naturbeirat mit Experten aus unterschiedlichen Disziplinen und aus unterschiedlichen beruflichen Kontexten, wie zum Beispiel von der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, oder der UNEP (United Nations Environment Programme).

Diese Expertinnen und Experten lassen uns kontinuierlich an neuesten Forschungsergebnissen teilhaben und unterstützen uns auch bei Einschätzungen, wo beispielsweise Maßnahmen die größte Wirkung haben oder welche Regionen und Branchen wir besonders im Blick haben sollten. 

Wo stehen wir aktuell? Und woran arbeiten wir?

VB: Wir erarbeiten Grundlagen und Maßnahmen, um die Themen Natur- und Biodiversitätsschutz bei unseren Geschäftstätigkeiten zu fördern. Dazu müssen wir den Wissens-Transfer in die Bank hinein stärken und das Thema in den nächsten Jahren in unseren Geschäftsbereichen verankern. Wir müssen unsere Kundenbetreuer dabei unterstützen zu verstehen, welche Risiken mit dem Thema „Artensterben und Biodiversitätsverlust“ für unsere Kunden einhergehen, aber auch welche Kredit- und Reputationsrisiken für die Bank damit entstehen können.

Wer treibt das Thema aktuell im Finanzsektor? Aufseher, Zentralbanken, Investoren oder die privaten Banken?

VB: Gesetzgeber und Aussichtsbehörden haben schon einen starken Einfluss. Wir sehen es zum Beispiel in Ländern wie Frankreich, wo es vom Gesetzgeber mehr Vorgaben zum Naturschutz gibt als bei uns. Grundsätzlich haben die europäischen Banken die Nase vorn, weil Europa insgesamt bei Klima- und Naturschutz mit dem europäischen Green Deal die stärkste Agenda hat, auch im Bereich Natur- und Artenschutz.

Zentralbanken nehmen das Thema auch mehr und mehr in den Fokus und natürlich schauen wir als Bank sehr genau, was unsere Wettbewerber machen. Wir betrachten das Thema ja nicht nur unter Risiko-Aspekten – es ergeben sich aus jedem Wandel immer auch neue Geschäftsmöglichkeiten.

Woraus zieht ihr beide die größte Hoffnung, dass wir Menschen das Thema in den Griff bekommen und das Artensterben begrenzen können?

MM: Nun, die Tatsache, dass wir als Gesellschaft und wir als Bank darüber diskutieren zeigt, dass es in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Die Diskussion ist der gesellschaftliche Prozess, Antworten auf Fragen zu finden, die für die Menschheit lebenswichtig sind. Das macht mir Hoffnung. 

VB: Beim Klima-Thema und vor allem bei der Integration von CO2-Messungen in wirtschaftliche Abläufe wurden wertvolle Erfahrungen gesammelt und werden sie weiter sammeln. Natur ist vielschichtig und komplex, dennoch profitieren wir von diesen Erkenntnissen, wenn es darum geht, Indikatoren in unsere Entscheidungen zu integrieren. Ich bin immer wieder positiv überrascht, wie schnell die Entwicklung hier voran geht, sei es bei der Verfügbarkeit von Daten oder wenn neue Initiativen und innovativen Ideen entstehen. 

Es geht dabei vor allem um das „wie“ und nicht mehr um das „warum”. Das ist ermutigend.

Markus Müller

Über Markus Müller

Markus Müller, Chief Investment Officer ESG der Deutschen Bank, begeistert sich für Natur und Wirtschaft und wollte schon als Kind Meeresbiologe werden. Ziel der Ökonomie ist es für ihn, Wege zu finden, die Lebensbedingungen der Menschen in ihrem Alltag zu verbessern und gleichzeitig die Natur zu schützen.

Viktoriya Brand

Über Viktoriya Brand

Viktoriya Brand ist Head of Group Sustainability als Teil des Chief Sustainability Office der Deutschen Bank. Sie ist verantwortlich für die Entwicklung von Umwelt- und Sozialstandards für das Kerngeschäft der Deutschen Bank mit Kunden. Ihre Leidenschaft ist es, für komplexe Themen wie Natur umsetzbare Lösungen zu finden.

Sonja Dammann

Sonja Dammann

… arbeitet seit mehr als 20 Jahren im CSR- und Kommunikationsbereich der Deutschen Bank. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten in der Natur – im nahegelegenen Wald, in den Bergen oder am Meer.

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