„Der Biodiversitätsverlust ist die größte Krise der Menschheit“
Zwei Millionen Tier- und Pflanzenarten sind laut einer neuen Studie gefährdet – und damit doppelt so viele wie zuvor angenommen. Klement Tockner, Generaldirektor der „Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung“, beschäftigt sich intensiv mit den Konsequenzen und Lösungen. Ein Ortsbesuch.
Klement Tockners Liebe zur Natur begann früh. Als siebtes von neun Kindern wuchs er auf einem Bergbauernhof in der Steiermark auf, in einem der entlegensten Orte Österreichs. Abends sah er sich vor dem Hof oft die Milchstraße an. Aus dieser Zeit nimmt Tockner vor allem zwei Dinge mit, wie er sagt: Eine feste Erdung sowie eine Wertschätzung für das Privileg, seinen Weg gehen zu dürfen. Dieser Weg hat den renommierten Gewässerökologen an die Spitze der „Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung“ geführt.
Tockner, 61, blauer Anzug, blaues Hemd, fester Händedruck, ist kein Dampfplauderer. Im Gegenteil. Er spricht langsam, kontrolliert und wägt seine Worte sorgsam ab. Das, was er sagt, hat es aber in sich. „Der Biodiversitätsverlust ist die größte Krise der Menschheit“, ist einer dieser Sätze, die aufhorchen lassen. „Wir graben uns unsere eigene Existenzgrundlage ab, denn die biologische Vielfalt ist essenziell für uns Menschen.“
Was weg ist, ist weg
Dabei blickt Tockner insbesondere auf die Arzneimittelherstellung und die Landwirtschaft. „Die Hälfte aller Medikamente kommt aus der Natur oder ist durch diese inspiriert und ohne die genetische Vielfalt der Nutzpflanzen könnten wir wahrscheinlich nicht überleben“, sagt er. „Wir haben hier eine riesige Verantwortung gegenüber kommenden Generationen. Denn in der Natur gilt in aller Regel: Was einmal weg ist, ist für immer weg.“
Zwei Millionen Arten gelten nach einer Studie aus dem vergangenen Jahr weltweit als gefährdet. Das sind rund doppelt so viele, wie in der globalen Bestandsaufnahme des Weltbiodiversitätsrates (IPBES) 2019 angenommen. Diese Verdopplung innerhalb von nur wenigen Jahren lässt sich nach Angaben von Josef Settele, Mitautor des IPBES-Berichtes, mit neuen und genaueren Informationen begründen.
Zum Vergleich: Weltweit wird die Anzahl der Tier- und Pflanzenarten auf rund acht Millionen geschätzt, manche Experten gehen auch von 15 Millionen aus, wovon der Großteil noch nicht beschrieben ist. „Wir verlieren somit viele Arten, bevor wir diese überhaupt entdeckt haben“, warnt Tockner.
Wir verlieren viele Arten, bevor wir sie überhaupt entdeckt haben.
Die Gründe für das Artensterben sind vielfältig. Dazu zählen der Klimawandel, eingeschleppte invasive Arten und nicht zuletzt die intensive wirtschaftliche Nutzung von Landflächen und Meeren, die zum Verlust von Lebensräumen führt. Für Tockner ist diese Entwicklung besorgniserregend. „Der Rückgang der biologischen Vielfalt im Anthropozän, dem von der Menschheit geprägten Zeitalter, ist etwa um das Hundertfache schneller als die natürlichen Veränderungen, die wir aus der Erdgeschichte kennen“, sagt er mit ernstem Blick. „Wir müssen wirklich jede Maßnahme ergreifen, die uns zur Verfügung steht, weil uns die Zeit wegrennt.“
Gentechnisch veränderte Pflanzen und neue Anreizsysteme
Ein paar Fortschritte gibt es bereits. 2022 einigten sich rund 200 Länder auf der Weltnaturkonferenz in Montreal darauf, dass bis 2030 mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresfläche unter Schutz gestellt werden soll. Zudem sollen umweltschädliche Subventionen in Höhe von 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr abgebaut und die Gefährdung von Mensch und Umwelt durch Pestizide bis 2030 halbiert werden.
Aus Tockners Sicht wichtige Entscheidungen, doch nun komme es auf die Umsetzung an. „Wenn man Schutzgebiete ausweist, muss man deren Schutz auch überwachen“, sagt er und lehnt sich vor. „Wir haben – auch in Deutschland – Schutzgebiete, die verdienen ihren Namen nicht.“ Zudem machten Entwicklungen wie der Klimawandel oder die Folgen des Pestizideinsatzes nicht an den Grenzen der Schutzgebiete halt. Deshalb gehe die biologische Vielfalt in manchen Schutzgebieten genauso stark zurück wie außerhalb.
Um dem Verlust wirksam entgegenzuwirken, brauche es eine breite Palette innovativer Maßnahmen. Hier wird der bisher eher zurückhaltende Tockner energisch. „Wir brauchen einen wirksamen Artenschutz“, sagt er. „Und wir müssen grundsätzlich deutlich mehr Geld für Prävention ausgeben anstatt für die Beseitigung von Schäden in der Natur. Bisher geht nur ein sehr kleiner Teil der Ausgaben für Umweltschutz in Vorsorgemaßnahmen, die gesunde Ökosysteme schützen.“ Gleichzeitig fordert Tockner Offenheit für neue Lösungen.
Die externen Kosten unseres Handelns müssen internalisiert werden. Das würde ein nachhaltiges Wirtschaften massiv befördern.
Dazu gehört für ihn auch der gut überlegte Einsatz gentechnisch veränderter Pflanzen. Diese seien wichtig, wenn man den Pestizideinsatz halbieren und gleichzeitig mehr als acht Milliarden Menschen ernähren wolle. Von der Politik fordert er, neue Anreizsysteme zu schaffen, die für die Natur positives Handeln belohnen. Für die Landwirtschaft könne das beispielsweise bedeuten, dass Flächenprämien reduziert und Landwirte belohnt würden, die weniger Land, Dünger und Pestizide nutzen.
Unternehmen anderer Branchen könnten belohnt werden, wenn sie weniger Wasser, Holz, Baumwolle oder andere natürliche Ressourcen verbrauchen als bisher. Dafür könne die Politik freiwerdende Mittel verwenden, wenn umweltschädliche Subventionen umgewidmet würden. „Die externen Kosten unseres Handelns müssen internalisiert werden“, sagt Tockner. „Das würde ein nachhaltiges Wirtschaften massiv befördern.“
Scharnier zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft
Seine Aufgabe sieht Tockner als Scharnier zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. „Wir können mit unserem Wissen und unserer Forschung die Politik beraten“, sagt er. „Gleichzeitig erreichen wir mit unseren drei Museen in Frankfurt, Dresden und Görlitz etwa eine Million Menschen und damit breite Schichten der Bevölkerung.“
Dies sei ein großer Hebel und zugleich eine große Verantwortung. „Es gibt aus meiner Sicht keinen besseren Ort, um große wirtschaftliche Transformationen anzustoßen als ein Forschungsmuseum“, sagt er. Forschungsmuseen seien jene Institutionen, die das höchste Vertrauen bei den Menschen genießen.
Es gibt aus meiner Sicht keinen besseren Ort, um große wirtschaftliche Transformationen anzustoßen, als ein Forschungsmuseum.
Seit etwa 40 Jahren beschäftigt sich Tockner mit biologischer Vielfalt. „Ich empfinde es als unglaubliches Privileg, dass ich studieren und diesen Weg gehen konnte“, sagt er mit Blick auf seinen Werdegang. „Und wenn man in so einer privilegierten Situation ist, muss man sich für etwas Wichtiges engagieren.“ Das überträgt sich auch auf die Museen. „Ich wünsche mir, dass die Leute eine andere Sichtweise erlangen, die sie in ihren Beruf und ihren Freundeskreis einbringen können“, sagt er. „Wir brauchen neugierige, begeisterungsfähige und kritische Menschen.“ In den Senckenberg-Museen will Tockner dafür einen Anstoß geben.
Klement Tockner und die Deutsche Bank
Klement Tockner ist Mitglied des im Oktober 2023 einberufenen Naturbeirats der Deutschen Bank. Dieser soll die Bank unter anderem dabei beraten, wie sie ihr Geschäft stärker auf die Finanzierung von Naturschutz und naturbezogenen Lösungen ausrichten kann. Er soll auch sicherstellen, dass das Handeln der Deutschen Bank im Zusammenhang mit der Natur mit den neuesten Entwicklungen in der Wissenschaft übereinstimmt.
Dem Naturbeirat gehören Fachleute unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen an, die mit Spezialisten der Deutschen Bank zusammenarbeiten. Den Vorsitz teilen sich Viktoriya Brand, Leiterin des Bereichs Group Sustainability, und Markus Müller, ESG-Chefanlagestratege der Privatbank.
Über Professor Klement Tockner
Klement Tockner, seit Anfang 2021 Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, leitet gemeinsam mit dem Direktorium die strategischen und operativen Geschäfte der Gesellschaft. Sein erklärtes Ziel ist es, durch die im Forschungsprogramm festgeschriebene ganzheitliche Geobiodiversitätsforschung einen zukunftsweisenden Beitrag zur Bewältigung der großen Herausforderungen des Anthropozäns – dem Zeitalter des Menschen – zu leisten.
Klement Tockners Forschungsinteresse gilt Gewässern: ihrer Dynamik und Biodiversität sowie dem nachhaltigen Management. Er forscht an der Schnittstelle verschiedener Disziplinen, wie etwa der Ökologie, der Geomorphologie und der Hydrologie. Dabei kombiniert der gebürtige Österreicher Grundlagenforschung mit anwendungsorientierter Forschung und verknüpft natur- mit sozialwissenschaftlichen Themen. Zudem berät er internationale Forschungseinrichtungen in deren strategischer Entwicklung.
Über die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Sie wurde bereits 1817 von engagierten Frankfurter Bürgern als Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft gegründet. Heute ist sie eine der wichtigsten Forschungseinrichtungen rund um die biologische Vielfalt und mit dem Frankfurter Haus eines der größten Naturmuseen Europas.
Gemäß ihrer langen Tradition ist es „Aufgabe der Gesellschaft, Naturforschung zu betreiben und die Ergebnisse der Forschung durch Veröffentlichung, durch Lehre und durch ihre Naturmuseen der Allgemeinheit zugänglich zu machen“.
An den zwölf Standorten der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung arbeiten bundesweit rund 850 Senckenberg-Mitarbeiter*innen aus 40 Nationen. Im Dialog mit Akteur*innen aus Wissenschaft und Praxis erforscht die Senckenberg Gesellschaft mit innovativen Methoden gesamtgesellschaftliche Zukunftsfragen. Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (SGN) ist Träger der acht Senckenberg-Forschungsinstitute und der drei Naturkundemuseen.
Georg Berger
... arbeitet an internationalen Kommunikationsprojekten bei der Deutschen Bank. Er interessiert sich dafür, welche konkreten Maßnahmen am meisten dazu beitragen, die Biodiversität zu bewahren und wie diese Maßnahmen umgesetzt werden könnten.
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