Talent gesucht! Der globale Wettstreit um Fachkräfte
Marc Schattenberg, Demografie- und Arbeitsmarktexperte bei Deutsche Bank Research, erklärt, wie es um den Fachkräftemangel steht und was passiert, wenn wir keine Arbeitsmigration zulassen.
Marc, in welchen Ländern fehlen aktuell die meisten Fachkräfte?
Einheitliche Zahlen gibt es nicht. Grundsätzlich haben die Staaten ein Problem, deren Erwerbsbevölkerung aufgrund des demografischen Wandels schrumpft. Einen großen Einfluss haben zudem technische Entwicklungen und neu entstandene Berufsbilder: Vor allem Industrieländer, die Digitalisierung fördern und beschleunigen, suchen verstärkt Fachkräfte in diesen Bereichen. Zugleich setzt beispielsweise die grüne Transformation Stellen frei und schafft neue. Sie betrifft verschiedene Industriezweige und ist in einzelnen Ländern ganz unterschiedlich ausgeprägt. Vergleiche zwischen Ländern sind somit schwierig. Es wäre zu kurz gegriffen, zur Ermittlung des Fachkräftemangels einfach die Zahl der Erwerbslosen in Relation zu den offenen Stellen zu setzen.
Und was erwartet uns in der Zukunft?
Viele europäische Staaten, aber auch andere Industrieländer erleben einen ähnlichen demografischen Wandel: Die Erwerbsbevölkerung altert und wird schrumpfen. Das liegt daran, wie sich die Geburten seit Mitte der 1950er Jahren entwickelt haben und wie viele Menschen zuwandern. Italien hat zum Beispiel eine sehr geringe Geburtenrate, dort wird die Erwerbsbevölkerung perspektivisch schrumpfen. In Japan ist der demografische Wandel sogar schon seit längerem zu spüren – ebenso wie der Fachkräftemangel. Dort können wir sehen, was uns aufgrund der demografischen Entwicklung erwartet.
Welche Branchen sind betroffen?
Wirtschaftszweige, die sehr personalintensiv sind, zum Beispiel soziale Berufe. Dort lässt sich nur begrenzt Technologie einsetzen, da sie den zwischenmenschlichen Kontakt kaum ersetzen kann – etwa in der Pflege, beim Arzt oder in der Bildung. Auf der anderen Seite fallen wie erwähnt in verschiedenen Branchen Stellen weg. Die Arbeitskräfte, die ihren Job verlieren, können aber oft nicht direkt in die Bereiche wechseln, in denen es an Personal mangelt, weil ihnen die Qualifikation fehlt. Die Folge: Manche Branchen benötigen wegen des Einsatzes von KI insgesamt weniger Personal – und haben trotzdem gleichzeitig einen Mangel an Fachkräften. Kurzum: Das Problem hat sehr viele Facetten.
Viele Staaten stehen in einem globalen Wettstreit um Arbeitskräfte.
Gibt es neben der Demografie noch andere Gründe für den Fachkräftemangel?
Ja, vor allem wirtschaftliche Aspekte. Wie stark der Fachkräftemangel ausfällt, hängt unter anderem von der Branchenstruktur in der jeweiligen Region ab. Zudem setzen die Sozialsysteme und die Rentenpolitik unterschiedliche Anreize für Fachkräfte aus dem Ausland. Siehe Großbritannien: Im Zuge des Brexits verfolgt das Land eine rigidere Zuwanderungspolitik, was den Fachkräftemangel vergrößert. Viele Staaten stehen in einem globalen Wettstreit um Arbeitskräfte. Das ist nicht zuletzt besonders herausfordernd für die Länder, aus denen Menschen abwandern.
Wo gehen Fachkräfte gerne hin?
In Länder und Regionen, die ihre grüne Transformation vorantreiben und in denen sich die digitale Wirtschaft sehr dynamisch entwickelt. Zum Beispiel Skandinavien, wo das Arbeitsumfeld generell als sozial sehr verträglich gilt. Im Baltikum ist die digitale Infrastruktur sehr weit fortgeschritten. Die USA sind unter anderem beim Thema Biotechnologie attraktiv. Aber auch einige asiatische Länder bieten Innovationszentren in verschiedenen Sektoren.
Wie kann sich ein Land attraktiver machen?
Da gibt es viele Ansatzpunkte. Wenn Regeln und Vorschriften die Wirtschaft eher stärken statt hemmen, steigert dies die Attraktivität. Ebenso wie Programme, die Investitionen oder ein innovatives Umfeld fördern, und die Anerkennung von bereits erworbenen beruflichen Qualifikationen.
Die Willkommenskultur ist wichtig.
Und jenseits der Makro-Ebene?
Die Willkommenskultur ist wichtig. Die Rahmenbedingungen, die Verwaltung und Bürokratie setzen, nehmen ebenfalls Einfluss. Mit Verwaltung meine ich nicht nur Formalitäten, sondern auch Themen wie Lohnsteuer oder Sozialabgaben. Überdies spielen soziale Aspekte eine wichtige Rolle. Für Menschen aus dem Ausland ist interessant, ob vor Ort eine Expat-Gemeinschaft besteht. Das ist nicht zu unterschätzen, denn hier kommen sie zum Beispiel oft schneller an informelles Wissen. Für viele ist auch relevant, wie gut sich ein Familiennachzug organisieren lässt. Daneben bleibt entscheidend, dass sich die nachgefragten Industrien und Branchen in dem Land dynamisch entwickeln.
Was können einzelne Unternehmen tun, damit sich Fachkräfte aus dem Ausland für sie entscheiden?
Natürlich ist die Bezahlung ein Hebel, weil sie international gerade bei den hochqualifizierten Arbeitskräften vergleichsweise transparent ist. Zudem sind die allgemeinen Arbeitsbedingungen ein Faktor, etwa die zeitliche Flexibilität oder die Ausstattung des Arbeitsplatzes. Ein Anreiz ist auch, wenn Unternehmen speziell auf kulturelle Bedürfnisse eingehen und die Mitarbeitenden im Unternehmen sozial interagieren.
Wir verbringen viel Zeit mit Arbeiten – deshalb ist es für ein Unternehmen immer eine Chance, wenn es eine gute, kontaktbildende Atmosphäre schafft. So kann es dazu beitragen, dass sich die Beschäftigten heimisch fühlen. Denn das muss man ganz klar sagen: Wer einmal eine Wanderungsentscheidung getroffen hat, für den könnte es eine Vielzahl an Zielorten geben. Denkbar ist auch eine höhere Mobilität, wenn die Bedingungen woanders attraktiver sind. Der internationale Wettbewerb wird auf diesem Feld immer größer.
Haben ärmere Länder in diesem Wettkampf einen Nachteil?
Das lässt sich durchaus so verallgemeinern, wenngleich es regionale Unterschiede gibt und Wanderungsgründe facettenreich sein können. Dazu dürften die Einkommensmöglichkeiten zählen, die politische und wirtschaftliche Stabilität ganz allgemein oder auch fehlende Netzwerkeffekte, wenn bestimmte Wirtschaftszweige noch nicht so stark entwickelt sind. Das sieht man letztlich daran, dass aus entsprechenden Regionen viele Menschen abwandern. Auf der anderen Seite haben diese Länder zumeist eine recht junge Bevölkerung und deshalb noch nicht so ein Alterungsproblem – sie können die Nachfrage nach Fachkräften besser aus ihrem eigenen Erwerbspersonenpotenzial decken.
Du hast vorhin gesagt, Länder mit dynamischer Digitalisierung sind im Vorteil...
Ja, in zweierlei Hinsicht: Eine dynamische Digitalisierung kann zu höherer Produktivität führen – weniger Köpfe können mehr produzieren – und damit dürfte auch eine größere Attraktivität für ausländische Fachkräfte einhergehen. Die Digitalisierung hebt die Produktivität, gerade in Bereichen, die per se schon technologie- und kapitalintensiv sind. Wenn sich die Wirtschaft in den Bereichen, in denen sich Digitalisierung effektiv einsetzen lässt, gut entwickelt, stützt das die Volkswirtschaft insgesamt. Das wiederum erleichtert es, Altersversorgung und Sozialsystem insgesamt zu finanzieren – was durch den demografischen Wandel herausfordernder wird, weil weniger Erwerbstätige Sozialabgaben bezahlen. Die Digitalisierung als Breitentechnologie ist deshalb ein Wettbewerbsvorteil und ein Hoffnungsschimmer.
Außer bei den personalintensiven Berufen …
Ja und nein. In der Pflege zum Beispiel könnte die Digitalisierung die Beschäftigten bei Verwaltungsaufgaben entlasten. Generell ist im Gesundheitswesen der Anteil an Verwaltung sehr hoch. Insbesondere KI kann auch helfen, Gesundheitsdaten auszuwerten, damit sich Pflegepersonal und Ärzte mehr dem direkten Kontakt mit einzelnen Patienten widmen können. Kurzum: Die Einrichtungen können potenziell sicherlich einiges an Zeit für ihre Mitarbeitenden freischaufeln. Aber die soziale Interaktion durch den Menschen selbst lässt sich nicht ersetzen
Wir müssen diese Berufe attraktiver machen.
Wir haben einen hohen Bedarf an Pflegepersonal und müssen diese Berufe attraktiver machen. Beispielsweise durch höhere Löhne oder geringere Arbeitszeiten - aber da beißt sich die Katze ein bisschen in den Schwanz, weil dann wiederum in der Summe Arbeitsstunden fehlen. Es wäre zielführend, diese Berufe für Personen aus anderen Wirtschaftszweigen attraktiver zu machen, die dort keine Beschäftigung mehr finden, weil die Technologie sie ersetzt hat oder weil es die Branchen auf Dauer gar nicht mehr gibt. Aber das ist leichter gesagt als getan.
Was würde denn passieren, wenn keine Fachkräfte kommen oder sie nicht bleiben wollen?
Dann haben wir ein Problem. Nehmen wir Deutschland als Beispiel: Die Erwerbsbevölkerung sinkt aufgrund des demografischen Wandels in den nächsten 20 Jahren wahrscheinlich um 3 bis 4 Millionen Personen. Aktuell haben wir noch rund 46 Millionen Erwerbstätige. Hinzu kommt, dass viele Menschen weniger Stunden pro Tag oder Woche arbeiten möchten. Das hätte einen weiteren dämpfenden Effekt auf das Arbeitsvolumen, das insgesamt zur Verfügung steht.
Dann haben wir ein Problem.
Und dadurch würde, noch weitergedacht, die Potentialwachstumsrate spürbar sinken, also das, was langfristig an Wachstum in einer Volkswirtschaft möglich ist. Denn diese Rate hängt neben dem technologischen Fortschritt und den Investitionen auch vom Erwerbspersonenpotenzial ab. Das Potenzialwachstum in Deutschland lag in der Vergangenheit bei 1,4 Prozent und beträgt aktuell etwa 0,7 Prozent. Im oben genannten Szenario könnte es noch weiter auf 0,4 bis 0,5 Prozent absinken. Das ist zu wenig, um zum Beispiel nach konjunkturellen Schwächephasen wieder schwungvoll aufzuholen. Die Folgen könnten Stagnation und eine sinkende Wettbewerbsfähigkeit sein.
Über Marc Schattenberg
Marc Schattenberg ist Senior Economist bei Deutsche Bank Research. Unter anderem ist er verantwortlich für die Themen Arbeitsmarkt und Löhne, Privater Verbrauch und Demografie. Marc studierte Volkswirtschaftslehre an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er arbeitet seit 2017 für Deutsche Bank Research.
Katrin Palm
… leitet digitale Kampagnen und Kommunikationsprojekte. Bei der Recherche hat sie gelernt, wie eng der Zusammenhang der digitalen Leistungsfähigkeit eines Landes zur Attraktivität für ausländische Fachkräfte ist. Aus ihrer Sicht sollten Debatten zu diesem Thema anerkennen, dass Industrienationen künftig nicht ohne die Zuwanderung von Fachkräften auskommen werden.
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