Die USA zeigen, wie gezielte Zuwanderungspolitik aussehen kann
Während die Weltbevölkerung wächst, fehlen in vielen westlichen Industrieländern Fachkräfte. Im Interview erklärt Katharina Hölzle, Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation, was sich in Deutschland verändern muss.
Frau Hölzle, nicht nur in akademischen Berufen, sondern auch in der Pflege, Erziehung und im Handwerk fehlen Arbeitskräfte. Könnte eine gezielte Steuerung von Qualifikation und Migration das Problem lösen?
In Europa, der westlichen Welt und auch in Deutschland benötigen wir dringend qualifizierten Nachwuchs. Zumal hochtechnologische Branchen in diesen Ländern fest verankert sind. Im Gegensatz dazu gibt es in den Ländern des globalen Südens zwar viele junge Menschen, aber sie sind weniger qualifiziert und die Branchen dort weniger entwickelt. Es wäre also durchaus sinnvoll, diese Menschen bei uns auszubilden und als Arbeitskräfte bei uns zu halten, aber auch als Botschafter in ihre Heimatländer zu senden, um dort die wirtschaftliche Entwicklung zu unterstützen.
Ein Blick auf die USA zeigt, wie eine gezielte Zuwanderungspolitik aussehen kann. Texas zum Beispiel profitiert von einem starken Zuzug aus den nördlichen Staaten der USA und Mexiko. Die Politik unternimmt dabei konsequente Anstrengungen mit dem Ziel, Hightech-Unternehmen und Arbeitskräfte aus dem Silicon Valley anzulocken. Kürzlich begleitete ich die Wirtschaftsministerin aus Baden-Württemberg auf einer Delegationsreise nach Texas, um uns zu „Startups“ und „New Space" zu informieren. Durch systematische Steuerpolitik werden Fachkräfte aus den Südstaaten gewonnen. So zahlen dort beispielsweise Ingenieure lediglich 10 Prozent Steuern.
Wie schneidet China im Vergleich dazu ab?
China verzeichnet derzeit eine so hohe Anzahl gut ausgebildeter junger Menschen wie noch nie zuvor. Die Universitäten in China haben ihre Kapazitäten massiv erhöht und können nun ihre eigenen Studierenden ausbilden, anstatt sie ins Ausland zu schicken. Allerdings gibt es gleichzeitig nicht genügend offene Stellen für diese Absolventen. Die Jugendarbeitslosigkeit in China liegt schätzungsweise zwischen 20 und 60 Prozent. Um überhaupt eine Chance auf einen Job zu haben, absolvieren viele Chinesen mittlerweile parallel zwei oder sogar drei Studiengänge. Die Chinesen haben eine große Lernbereitschaft und Ehrgeiz.
Mit Blick auf die Gewinnung von jungen Menschen hat Indien ein großes Potenzial. Es werden vielfach Initiativen gestartet, um Fachkräfte aus Indien zu gewinnen. Die Anzahl indischer Studierender nimmt stetig zu und sie sind bereit, Deutsch zu lernen. Viele von ihnen haben das Ziel, in Deutschland zu bleiben. Auch für Europa wäre es von Vorteil, wenn wir auf nationaler Ebene gezielte Kooperationen mit Indien eingingen.
Welche Bedeutung hat der Fachkräftemangel für Deutschland?
Deutschland hat das Problem, dass viele Fachkräfte zu alt sind und zu wenige junge nachrücken. Zudem geht die Anzahl der Studierenden besonders in den MINT-Fächern zurück. Die Studiengänge der Fachrichtung Ingenieurwissenschaften verzeichnen einen Rückgang von fast 40 Prozent. Deutschland ist auf seine Fachkräfte angewiesen. Wir haben wenig bis keine anderen Ressourcen. Wir werden unser Geld nie durch den Abbau von seltenen Metallen verdienen. Auch eine energieintensive Industrie wird uns nicht mehr den gewünschten Ertrag bringen. Daher müssen wir in andere Industrien umschwenken, was auch dort gut ausgebildete Fachkräfte erfordert.
Deutschland ist auf seine Fachkräfte angewiesen. Wir haben wenig bis keine anderen Ressourcen.
Welche Branchen sind besonders betroffen?
Die Arbeitslosenquote in Deutschland liegt bei etwa 6 Prozent, wie von der Bundesagentur für Arbeit bestätigt. Gleichzeitig steigt die Anzahl der offenen Stellen weiter an. Offene Stellen gibt es vor allem in der Verkehrs- und Logistikbranche, im Einzelhandel sowie in medizinischen Berufen wie der Pflegefachkraft im Krankenhaus. Auch im Handwerk werden dringend Fachkräfte gesucht. Es fehlen uns vor allem Ausbildungsberufe. Im Jahr 2023 gab es etwa 70.000 bis 80.000 offene Ausbildungsstellen, und insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen finden kaum Auszubildende.
Besorgniserregend ist zudem, dass kaum Bereitschaft zur Weiterbildung vorhanden ist. Die fehlende zusätzliche Qualifizierung stellt für Deutschland als Land mit begrenzten Ressourcen ein echtes Problem dar. Mit Blick auf die Automobilindustrie zum Beispiel lag der Fokus lange Zeit auf dem Verbrennungsmotor, weshalb nun ein Mangel an Fachkräften im Bereich der Elektromotoren besteht. Eine Umschulung gestaltet sich jedoch nicht einfach.
Die fehlende zusätzliche Qualifizierung stellt für Deutschland als Land mit begrenzten Ressourcen ein echtes Problem dar.
Warum ist das so?
Einige behaupten, wir seien zu satt und zu müde zum Arbeiten. Im Vergleich dazu scheint in China jeder Lust am Arbeiten zu haben. In Deutschland hingegen drängt sich oft der Eindruck auf, junge und alte Menschen sähen wenig Notwendigkeit zur Aus- und Weiterbildung, weil sie glauben, dass sie eh einen sicheren Job haben.
Doch die Probleme gehen tiefer. Ich mache mir große Sorgen wegen der bereits genannten sinkenden Studierendenzahlen in den Ingenieurwissenschaften. Drei Faktoren könnten dafür verantwortlich sein. Erstens: Die Attraktivität der Automobilindustrie, der Elektrotechnik und des Maschinenbaus lassen nach. Zweitens: die Verunsicherung der Menschen, nachlassende Bereitschaft zur Weiterbildung und teilweise auch zur Leistung an sich. Und drittens ein fragwürdiger Studienaufbau. An der Uni Stuttgart zum Beispiel, für die ich sprechen kann, ist teilweise die Zeit stehen geblieben. Es wird zu wenig team- und projektbasiert gelernt und gelehrt. Die Themen Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Zukunftsorientierung kommen in den Lehrplänen nach wie vor viel zu wenig vor.
Ist die Leistungsbereitschaft in Deutschland im internationalen Vergleich zurückgegangen?
Die Regierung Merkel hat 16 Jahre lang für Stabilität gesorgt, was durchaus positiv ist. Allerdings hat dies dazu geführt, dass wir etwas träge geworden sind, uns darauf verlassen, dass der Staat alles regelt. Doch in der heutigen Welt funktioniert das nicht mehr. Es ist an der Zeit, den Begriff der Arbeit neu zu definieren. Arbeit wird besonders von Jugendlichen oft negativ konnotiert und als Ausbeutung oder Verlust von Lebenszeit angesehen. Stattdessen sollten wir Arbeit als etwas Gestaltendes, Wertschöpfendes und Erfüllendes begreifen - etwas, das strahlt.
Und jetzt dringt auch noch Künstliche Intelligenz (KI) immer weiter in die Arbeitswelt vor. Wie können wir Menschen da mithalten?
KI ist von großer Bedeutung. Digitale Technologien sind unverzichtbar, da sie in verschiedenen Bereichen wie Recht, Medizin, Pflege und Einzelhandel immer wichtiger werden. Wir müssen uns aktiv damit auseinandersetzen, sie auch in die Ausbildung einbeziehen. Ich empfehle meinen Studierenden die Nutzung von generativer KI, um Texte zusammenfassen zu lassen und bei der Klausurvorbereitung zu helfen. Es ist jedoch wichtig, die Antworten kritisch zu reflektieren und zu verstehen, wie die KI zu ihren Antworten kommt. Wie ein Algorithmus funktioniert.
Und auch wenn die Anzahl der Informatik-Studiengänge steigt, gibt es immer noch zu wenige Studierende und Fachkräfte. Die Entwicklungen in Texas und China zeigen, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben. Um diesen Rückstand aufzuholen, bräuchten wir das Zehnfache an Informatikstudierenden und Fachkräften.
Und wie können wir die Menschen darauf vorbereiten? Was kann oder muss insbesondere der Mittelstand in Deutschland tun?
Sicherlich können wir in Zukunft einfach die generative KI um Antworten bitten. Doch es gibt menschliche Fähigkeiten, die wir nicht ersetzen können - und wollen! Wir müssen lernen, in Szenarien zu denken, um die Entwicklung alternativer Handlungsoptionen zu ermöglichen. Wir brauchen Kreativität, unternehmerisches Denken, Kollaboration. Der Stifterverband nennt diese Fähigkeiten „Future Skills".
Weiterhin gibt es zutiefst menschliche Fähigkeiten, die uns auch in Zukunft von der KI unterscheiden werden. Ich nenne Ihnen mal drei: Neugierde hilft uns dabei, die richtigen Fragen zu stellen. Empathie ermöglicht es, menschliche Bedürfnisse zu erkennen und erfolgreich im Team zu arbeiten. Initiative bedeutet, selbst Verantwortung zu übernehmen und Dinge umzusetzen. Dieses Dreigestirnmodell ist für die deutsche Wirtschaft und besonders den Mittelstand von zentraler Bedeutung, aber muss sicherlich für spezifische Anwendungsfälle in konkrete Fähigkeiten umgesetzt werden.
Das klingt nach Hoffnung und großer Aufgabe zugleich. Können deutsche Unternehmen trotz Fachkräftemangel, sinkender Studentenzahlen und der zuweilen mangelnden Motivation weiterhin wettbewerbsfähig bleiben?
Ja, ich glaube fest daran - für Deutschland. Wir haben nach wie vor Erfindergeist und gute Technologien. Wir können es in Deutschland besser machen. Aber dafür brauchen wir ein positives und authentisches Narrativ. Klarheit in unseren Aussagen. Einen politischen Rahmen, der uns Flexibilität ermöglicht. Die Unternehmen vor Ort sind frustriert, weil sie nicht wissen, wie die Gesetzgebung in einem Jahr aussehen wird. Gleichzeitig müssen wir schnell und agil sein, um neue Dinge auszuprobieren. Wir brauchen Mut, diese Dinge anzugehen. Die Unternehmen sind bereit dazu, aber oft werden sie durch Formalitäten und Verwaltungsaufwand eingeschränkt. Sie brauchen Planungssicherheit durch die Politik, Mut - und eben die notwendigen Fachkräfte.
Wie können wir diese Fachkräfte gewinnen? Was kann dabei helfen?
Wir müssen die zukünftigen Fachkräfte von unserem Angebot überzeugen. Dazu ist es wichtig, dass sie verstehen, wofür sie arbeiten und ihren Beitrag sehen. Menschen wollen gesehen und wertgeschätzt werden. Aber es muss auch klar sein, dass wir nicht stehen bleiben können, sondern uns aktiv und interessiert weiterbilden und weiterentwickeln müssen. Unternehmen müssen hierbei eine aktivere Rolle übernehmen, anstatt nur Geld zur Verfügung zu stellen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Denken in Ökosystemen – Stichwort: Arbeitsmigration! Fachkräfte haben ein Interesse daran, nach Deutschland zu kommen. Allerdings tun sich Unternehmen in Deutschland häufig schwer damit, zusammenzuarbeiten und zu kooperieren. Um Fachkräfte anzuziehen, müssen wir als Gesellschaft ein Ökosystem schaffen, das für junge Menschen und Familien attraktiv ist. Dies beinhaltet eine Zusammenarbeit von Unternehmen, Gemeinden, Universitäten, Schulen, Vereine und Partnern vor Ort. Nur gemeinsam können wir ein Ökosystem schaffen, in dem diese Menschen herzlich aufgenommen werden und sich wohlfühlen können.
Um Fachkräfte anzuziehen, müssen wir als Gesellschaft ein Ökosystem schaffen, das für junge Menschen und Familien attraktiv ist.
Wie lässt sich aus Ihrer Sicht der Fachkräftemangel hierzulande wirksam bekämpfen?
Für mich ist das klassische Modell der Arbeitswirtschaft entscheidend, welches auf drei entscheidenden Hebeln basiert: Mensch, Technologie und Organisation. Um es klar auszudrücken: Wir brauchen motivierte Menschen, die einen zukunftsorientierten Beruf ergreifen möchten. Dies wird erreicht durch Motivation, Aus- und Weiterbildung sowie Arbeitsmigration. Bei der Organisation geht es darum, ein Arbeitsklima zu schaffen, in dem sich die Menschen wertgeschätzt und angemessen honoriert fühlen.
Der dritte Punkt ist die Technologie, insbesondere die schon genannten großen Potenziale in den Bereichen KI und Robotik. Hier brauchen wir eine menschzentrierte Entwicklung, um die Menschen mitzunehmen.
Können wir damit auch die Handwerks- und Pflegeberufe erreichen, die ja ebenfalls unter eklatantem Fachkräftemangel leiden?
Meine beiden Institute haben dazu mit Unterstützung des Bundesministerium für Arbeit und Soziales aktuell ein spannendes Projekt: die KI-Studios! Diese richten sich explizit an kleine und mittlere Unternehmen, insbesondere aus dem Handwerks- und Dienstleistungsbereich. Wir fahren mit zwei KI-Bussen durch die Bundesrepublik und besuchen Unternehmen. Es werden Anwendungsbeispiele gezeigt, wie zum Beispiel ein KI-basiertes Tool für Pflegeeinrichtungen, das den tatsächlichen Gesundheitszustand der Menschen in diesen Einrichtungen ermittelt. Diese Prototypen sind beeindruckend und helfen den Menschen, ihre Ängste zu überwinden und Potenziale der Technologien zu erkennen. Die Erfahrungen damit sind durchweg positiv. Das sind die praktischen Beispiele, die die Menschen sehen wollen. Die Arbeit wird veranschaulicht und es macht den Menschen Spaß.
Die Erfahrungen damit sind durchweg positiv. Das sind die praktischen Beispiele, die die Menschen sehen wollen.
Wir müssen aktiv einstehen für den Wert menschlicher Arbeitskraft und die Menschen auf die Reise der Transformation mitnehmen. Dann funktioniert es. Und mit dem KI-Act zeigen wir in Europa, wie das gehen kann. Das erfordert ein ständiges Ausbalancieren von Machbarem und Wünschenswertem. So stärken wir kollaborative Innovation in Europa. Wir sollten optimistisch sein, denn nur so können wir ein lebenswertes Europa gestalten.
Über Katharina Hölzle
Prof. Dr. Katharina Hölzle ist seit April 2022 Professorin und Leiterin des Instituts für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement an der Universität Stuttgart. Sie leitet auch das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO). Seit April 2023 ist sie als Technologiebeauftragte für das Wirtschaftsministerium von Baden-Württemberg tätig. Zuvor war sie Mitglied des Hightech-Forums der Bundesregierung. Sie ist außerdem Gründungsmitglied von #shetransformsIT. Ihre Forschung konzentriert sich auf Technologie- und Innovationsmanagement, Arbeitswissenschaft und die digitale Transformation. Dabei liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Interaktion zwischen Mensch, Technologie und Organisation.
Timo Bergold
… verantwortet internationale Kommunikationsprojekte der Deutschen Bank. Spannend findet er, wie sich die Arbeitswelt in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern, insbesondere den USA und China, verändert. Ihn interessiert dabei, wie sich Unternehmen aufstellen müssen, um Fachkräfte anzuziehen.
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