Film ab: Neue Wege für das Arztgespräch
Immer mehr Patientinnen und Patienten, immer weniger Ärztinnen und Ärzte: Der Fachkräftemangel ist längst im Gesundheitssektor angekommen. Gefragt sind Ideen, die das Personal entlasten und die Patienten besser versorgen. MIA Video zeigt, wie beides funktionieren kann.
Ärztinnen und Ärzte in weißen Kitteln hetzen über die Flure, selten allein, meistens im Schwarm. Schnellen Schrittes blättern sie in Patientenakten. Schon fliegt die nächste Zimmertür auf und der Tross ist verschwunden.
Gleicher Flur, anderer Job: Krankenschwestern flitzen von links nach rechts, wahlweise ausgestattet mit Medikamenten, Essenstabletts oder mit allem, was für die nächste OP nötig ist. Ein schriller Ton, ein grelles Licht – da braucht jemand Hilfe! Eine Schwester rennt über den Flur und kümmert sich. Egal ob Notfall oder Lappalie – hier wird sie gerade gebraucht. Und dafür muss dann eben etwas anderes warten. Willkommen im Krankenhaus.
So geht es nicht immer und überall zu, aber viel zu häufig. Wer kennt es nicht – das mulmige Gefühl, den Ort zu betreten, an dem man wieder gesund werden soll? Da sitzt man mitunter Stunden, wird von A nach B geschickt und wartet auf das Arztgespräch. Unfreiwillig wird man Zeuge dessen, was in deutschen Klinken Alltag ist. Der Stresspegel steigt, die Hände schwitzen, die Gedanken kreisen: „Werde ich hier richtig versorgt?“
Die Zeit ist mehr als knapp
„Angst ist das vorherrschende Gefühl im Krankenhaus“, weiß Paul Romanski, Facharzt für Innere und Notfallmedizin am Hospital zum Heiligen Geist in Kempen. „Patienten sehnen sich nach mehr Zeit, um ihre Fragen zu stellen, nach weniger Routine und vor allem danach, als Mensch wahr- und ernstgenommen zu werden.“
Zeit ist allerdings mehr als knapp. Immer weniger medizinisches Pflegepersonal muss sich um immer mehr Patienten kümmern. Der Fachkräftemangel ist längst im Gesundheitswesen angekommen – und die Aussichten sind düster.
Die Lücke der Fachkräfte im Gesundheitswesen wächst
Konkret: Die Anzahl der zu versorgenden Patienten steigt aufgrund des demografischen Wandels und der zunehmenden Anzahl chronisch kranker oder multimorbider Patienten. Gleichzeitig wächst die Lücke der Fachkräfte im Gesundheitswesen: Laut einer Studie der Unternehmensberatung PWC waren im Jahr 2022 rund 290.000 Stellen in Deutschland nicht besetzt. Im Jahr 2035 werden schon rund 1,8 Millionen Fachkräfte fehlen, das entspricht etwa einem Drittel aller Arbeitsplätze.
Insbesondere die Fachkräfte in der Pflege befinden sich einem Teufelskreis. Das vorhandene Personal ächzt unter der wachsenden Arbeitslast, bemängelt unattraktive Arbeitsbedingungen, fehlenden Respekt und unzureichende Aus- und Weiterbildung. Die Folge: Immer mehr qualifizierte Kräfte steigen vorzeitig aus oder wechseln das Metier. Allein unter den Ärzten und Pflegekräften mit leitender Tätigkeit plant nur knapp jeder Dritte, den derzeitigen Beruf bis zur Rente auszuüben.
Die Situation ist ernst – in ganz Europa
Der Fachkräftemangel gefährdet perspektivisch die Gesundheitsversorgung – und das nicht nur in Deutschland. „Alle Länder der europäischen Region stehen vor ernsthaften Herausforderungen in Bezug auf Gesundheits- und Pflegepersonal“, heißt es in einem Report der Weltgesundheitsorganisation WHO. Das medizinische Fachpersonal sei zunehmend überaltert, gleichzeitig würden zu wenig neue Ärztinnen und Ärzte ausgebildet – so dass die medizinische Versorgung insgesamt leide.
In Frankreich habe der Mangel an Ärzten allein in den vergangenen 3 Jahren um 50 Prozent zugenommen, konstatiert die WHO. Als Folge sei es für immer mehr Franzosen schwierig, in der Nähe eine Praxis oder ein Krankenhaus zu finden. Und rund 6 Millionen Franzosen haben derzeit keinen Hausarzt - also fast jeder zehnte.
In England wiederum haben während der Covid-Pandemie rund 25.000 Krankenschwestern, -pfleger und Hebammen, die im öffentlichen Dienst tätig waren, gekündigt. Im Jahr 2022 gab es im britischen Gesundheitssektor mehr als 132.000 offene Stellen, ein Zuwachs von 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Darunter waren 10.000 vakante Stellen für Ärzte, ein Anstieg von 32 Prozent.
Ähnlich sieht die Lage in anderen europäischen Ländern aus. „Wenn nicht sofort gehandelt wird, könnte der Mangel an Fachkräften im Gesundheitswesen in der europäischen Region zu einer Katastrophe führen“, heißt es in dem Bericht der WHO. Gemeint sind schwerwiegende gesundheitliche Schäden, vermeidbare Todesfälle und der Zusammenbruch ganzer Gesundheitssysteme.
Der Mangel an Gesundheitsfachkräften kostet weltweit Menschenleben.
Ein ähnliches Schreckensszenario zeichnet sich auch weltweit ab. Eine chinesische Arbeitsgruppe nutzte Daten verschiedener Studien und Statistiken, unter anderem der Vereinten Nationen, um den Zusammenhang zwischen Gesundheitspersonal und Todesursachen in 172 Ländern und Regionen zu erforschen. Zwar stieg insgesamt die Zahl der Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten – aber nicht überall. Wo es im Vergleich wenig Fachpersonal gab, etwa in Äthiopien oder Guinea, war das Risiko, an Darminfektionen, Diabetes oder Nierenkrankheiten zu sterben, zwischen 2 und 5,5-mal höher als in den Regionen mit der höchsten Personaldichte. Das „Deutsche Ärzteblatt“ fasst zusammen: „Der Mangel an Gesundheitsfachkräften kostet weltweit Menschenleben“.
Neue Wege in der Arzt-Patienten-Kommunikation
„Es ist wichtig, diese Situation anzuerkennen. Patientinnen und Patienten haben ein Recht auf umfassende und respektvolle medizinische Versorgung. Wir müssen neue Wege finden, diesem Anspruch gerecht zu werden und gleichzeitig das medizinische Fachpersonal zu entlasten“, fordert Romanski. Und formuliert damit zugleich seine ganz persönliche Motivation.
Seine Erfahrungen im Klinikum und sein Wissen um die Not von Personal und Patienten machten aus dem praktizierenden Arzt einen Unternehmer. Zusammen mit dem Video-Profi Phil Ramcke entwickelte er die Idee, das klassische Arztgespräch mit Hilfe von Erklärvideos zu verändern. Im vergangenen Jahr gründeten die beiden dafür das Start-up MIA Video.
Das individuelle, einfühlsame Gespräch ist die Seele der Medizin.
Das Unternehmen will die Kommunikation zwischen Arzt und Patient verbessern – zum Beispiel vor Operationen oder wenn es darum geht, Informationen zu Untersuchungen, Diagnosen oder Therapien zu vermitteln. Hier fließt die Expertise beider Gründer ein: Romanski weiß, auf welche Fachinhalte es ankommt und was die Patienten bewegt. Ramcke setzt dieses Wissen professionell und emphatisch in Filme um. Fachjargon? Fehlanzeige! Mittels der Videos erhalten Patienten bereits vor dem Termin mit dem Arzt oder der Ärztin alle wesentlichen Informationen, die sie sich bei Bedarf sogar mehrfach oder zuhause ansehen können. Das anschließende Treffen zwischen Arzt und Patient ist dann exklusiv für Fragen reserviert.
„Das individuelle, einfühlsame Gespräch ist die Seele der Medizin. Ärzte verstehen dies als zentralen Aspekt ihrer Profession“, führt Paul Romanski aus. Wahre Heilung resultiere nicht nur aus der Diagnose, sondern auch durch die zwischenmenschliche Beziehung. „MIA Video ermöglicht, dass sich Arzt und Patient intensiver, persönlicher und auf Augenhöhe begegnen“, sagt Romanski.
Wer versteht, was ihm fehlt und welche Therapie nötig ist, hat bessere Chancen auf eine erfolgreiche Genesung.
Der Zeitaufwand für das Aufklärungsgespräch lässt sich von 27 Minuten in der klassischen Form auf 6 Minuten beim Einsatz eines MIA-Videos verkürzen. Obwohl die Zeit für das Gespräch faktisch kürzer ausfällt, ist es individueller, denn es geht hier ausschließlich um das, was den Menschen bewegt, um seine Ängste, Sorgen und Nöte. Der Zeitgewinn zahlt sich also für Ärzte und Patienten aus.
Die Videos sind in mehr als 40 Sprachen abrufbar, die Patienten können sich also in ihrer jeweiligen Muttersprache informieren. Aus Sicht von Romanski ein entscheidender Vorteil für das Patientenwohl: „Wer versteht, was ihm fehlt und welche Therapie nötig ist, hat bessere Chancen auf eine erfolgreiche Genesung.“
Bürokratismus bremst digitalen Fortschritt
Doch selbst wenn digitale Technologien große Fortschritte versprechen – in der Praxis ist der Weg beschwerlich. Denn wer im Gesundheitsbereich etwas Neues einführen möchte, muss viele Hürden überwinden.
„Wir sind sehr stark reguliert, durch Behörden, durch die Regierung, die immer wieder neue Gesetze einbringt und den Bürokratismus weiter erhöht statt abbaut“, berichtet Rubin Mogharrebi, Chefarzt der Zentralen Notaufnahme am Hospital zum Heiligen Geist in Kempen, „das hält uns auf.“ Gute Ideen für die Digitalisierung im Gesundheitswesen blieben so auf der Strecke. Die Folge: „Vieles läuft im Krankenhaus noch manuell, über Zettelwirtschaft. Wie heißt es noch so schön? Das wichtigste Gerät im Krankenhaus ist das Faxgerät“, sagt Mogharrebi und fordert: „Das muss anders werden.“
Ein Schritt in die richtige Richtung
Immerhin: MIA Video hat die Hürden erfolgreich gemeistert und will jetzt den Markt erobern: 36 Erklärvideos sind bereits im Kasten, bis zu 400 sollen es werden, um damit perspektivisch bis zu 95 Prozent aller Arzt-Patientengespräche abdecken zu können. Die Expertise von Romanski fließt in jedes Drehbuch. Ein Beirat aus Fachärzten überprüft anschließend das Skript und das fertige Produkt – und stellt so sicher, dass alle Vorschriften und Regeln erfüllt sind.
Mogharrebi unterstützt den Einsatz der Videos: „Die Filme können uns einen Teil der Zeit, die uns fehlt, zurückgeben. Das sind genau die Dinge, die wir brauchen – sie verbessern die Situation für die Patienten und die Beschäftigten.“
Können Innovationen wie die von MIA Video den Fachkräftemangel beenden? Wohl kaum. Neben der Digitalisierung bedarf es zusätzlicher Arbeitskräfte und guter Ausbildung. „Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung“, ist Mogharrebi überzeugt.
Diese These stützt auch die oben zitierte PWC-Studie: Ärzte und Pfleger erhoffen sich von der Digitalisierung, dass sich Gesundheitsdaten besser beobachten lassen, Informationen schneller fließen, der Arbeitsalltag weniger stressig ist – und mehr Zeit für die Patienten bleibt.
Vieles läuft im Krankenhaus noch manuell, über Zettelwirtschaft. Das muss anders werden.
Ideen für die Zukunft
MIA Video trifft also den Nerv der Zeit. „Wir möchten Ideen entwickeln, die das Patientenwohl steigern und die Ärzteschaft entlasten“, fasst Romanski zusammen. Aktuell stehe der Auf- und Ausbau der Video-on-demand-Plattform im Fokus. Parallel arbeite man aber schon an Methoden, die den klassischen Aufklärungsbogen auf Papier ersetzen könnten.
Doch das ist noch Zukunft. Zurück in die Gegenwart, ins Hospital zum Heiligen Geist in Kempen. Ein wartender Patient, besorgter Gesichtsausdruck. Ein Arzt kommt vorbei, nicht entspannt, aber auch nicht komplett gestresst. Er bleibt stehen: „Kann ich etwas für Sie tun?“ Schnell zückt er seinen elektronischen Kalender und stellt fest, dass er dank eines videogestützten Aufklärungsgesprächs ein paar Minuten Zeit gewonnen hat, bevor der nächste Termin ansteht. Dann setzt er sich einfach hin und hört zu.
Deutsche Bank und MIA Video
Die Deutsche Bank hat dem Start-up MIA Video auf die Beine geholfen. Das Team Heilberufe-Beratung Mittlerer Niederrhein brachte in der Gründungsphase seine Expertise und Erfahrung ein. Die Unternehmensgründer und ihr Geschäftsmodell überzeugten auch das Land Nordrhein-Westfalen, das sich an einem ausgeklügelten Finanzierungskonstrukt beteiligt.
Über MIA Video
Die MIA Video GmbH wurde 2023 in Viersen gegründet von Paul Romanski, praktizierender Arzt am Hospital zum Heiligen Geist in Kempen, und dem Filmemacher Phil Ramcke. Das Start-up geht neue Wege in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Videos machen relevante Fachinformationen besser zugänglich – was medizinisches Fachpersonal entlastet und mehr Zeit für das individuelle Arztgespräch schafft. Das Unternehmen strebt ein Portfolio von 400 Filmen in 40 Sprachen an und will damit perspektivisch bis zu 95 Prozent aller Arzt-Patientengespräche unterstützen. Bereits jetzt laufen die Vorbereitungen für ein interaktives Video-Format, das den klassischen Aufklärungsbogen ablösen soll.
Antje Schmaus
… ist fasziniert davon, wie durch Unternehmergeist kleine Dinge Großes bewegen können. Als ehrenamtliche Hospizhelferin weiß sie, wie wichtig das Gespräch mit Menschen ist – und wo der Schuh des medizinischen Fachpersonals drückt. Sie freut sich, dass durch digitale Innovationen das Zwischenmenschliche wieder in den Mittelpunkt rückt und ist gespannt, wohin die Reise geht.
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