Ist das Schlimmste überstanden?

Deutsche-Bank-Analyst Henry Allen erklärt im Interview, wie die Weltwirtschaft durch die aktuelle Polykrise kommt, wie sie sich für die anstehenden Herausforderungen wappnen kann – und warum er optimistisch ist, dass die Lebensqualität weiter steigt.

Warum die guten Zeiten nicht vorbei sind! Erklärt in 99Sekunden

Der Himmel über Frankfurt ist düster, die ersten Regentropfen prasseln auf die Fensterscheiben der Deutsche-Bank-Zentrale – ein Sturm kündigt sich an. Auf dem Computerbildschirm lächelt uns Henry Allen, Analyst bei Deutsche Bank Research, trotzdem fröhlich und gut gelaunt entgegen. Wir wollen wissen: Wie positiv ist er gestimmt, wenn es um die aktuellen ökonomischen und geopolitischen Herausforderungen geht – und wie gut sind Wirtschaft und Gesellschaft gerüstet, um diese „Polykrise“ zu meistern?

Mehrere Schlechtwetterfronten

„Die zahlreichen, sich überlappenden Krisen führen zu einer außergewöhnlich volatilen Lage“, sagt Henry. Die größte Herausforderung der letzten Jahre war dabei für ihn die Corona-Pandemie, die die Weltwirtschaft so stark schrumpfen ließ wie seit der Großen Depression am Ende der 1920er Jahre nicht mehr. Es war ein massiver globaler Schock, der zu einer noch heftigeren Rezession führte als die globale Finanzkrise 2008.

Und die Welt kämpft immer noch mit den Nachwehen: Unterbrochene Lieferketten, anhaltend hohe Inflation mit einem sprunghaften Anstieg der Lebensmittelpreise – und nicht zuletzt eine enorm gestiegene Schuldenlast, da die Regierungen enorme Kredite aufnehmen mussten, um die Pandemie zu überstehen. Der Krieg in der Ukraine hat die Situation weiter verschärft, vor allem mit Blick auf die Energieversorgung.

Not macht erfinderisch.

Dem Sturm trotzen

Wie können Volkswirtschaften solche Stürme überstehen? „Not macht erfinderisch“, sagt Henry. „Große Schocks erfordern ein neues Denken.“ Als Reaktion auf die Energieknappheit sind Volkswirtschaften beispielsweise dazu übergegangen, ihre Quellen zu diversifizieren und sich weniger abhängig von einzelnen Ländern zu machen – so, wie es nach dem OPEC-Ölembargo von 1973 schon einmal geschehen ist. Diesmal hat die Notsituation den erneuerbaren Energiequellen einen kräftigen Schub gegeben. Für Henry eine Entwicklung, die sich fortsetzen muss. 

Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Wirtschaft erfolgreich mit einer kritischen Situation umgehen kann, ist stärkere Zusammenarbeit. Zu Beginn der Corona-Pandemie befürchteten die meisten Länder, dass die Entwicklung von Impfstoffen mehrere Jahre dauern würde. Doch die Realität belehrte sie eines wortwörtlich Besseren: Weil Regierungen, private Unternehmen und die Zivilgesellschaft eng kooperierten, waren die ersten Impfstoffe schon nach einem Jahr verfügbar. 

Damit Zusammenarbeit und Innovation optimal funktionieren, ist ein verlässlicher Rahmen erforderlich. In Gesellschaften mit einem fairen Rechtssystem und einem berechenbaren Geschäftsumfeld sind Menschen eher bereit zu investieren - weil sie wissen, dass es Schutzmechanismen gibt, die Ihnen Sicherheit bieten. Stabilität ist ein entscheidender Faktor, insbesondere wenn außergewöhnliche äußere Einflüsse wie Pandemien das Wirtschaftssystem als Ganzes angreifen.

Frühwarnsysteme

„Wichtig für die Resilienz von Volkswirtschaften ist, die richtigen Lehren zu ziehen. „Im Rückblick bewerten viele Menschen eine Krise tendenziell als leicht zu bewältigen“, sagt Henry. „Im Nachhinein erscheinen die Dinge einfacher und vorhersehbarer, weil wir das Ergebnis kennen und wissen, wie wir die Probleme gelöst haben.“ 

Das gilt nicht zuletzt auch für Finanzkrisen. In diesem Zusammenhang verweist Henry auf die Wirtschaftswissenschaftler Ken Rogoff und Carmen Reinhart. Deren Buch „Dieses Mal ist alles anders“ beschreibt und analysiert, wie Menschen die Vergangenheit ignorieren, Bedenken abtun und Gründe finden, warum die aktuelle Situation nicht vergleichbar ist – obwohl sich an den Grundlagen, wie Finanzkrisen entstehen, nicht wirklich etwas verändert.

Ich denke, wir werden in Zukunft unweigerlich weitere Krisen erleben.

Im Finanzsektor eskalieren die Probleme häufig in Bereichen, die als sicher gelten, es aber nicht sind – wie 2008, als die Menschen dachten, verbriefte US-Immobilienkredite seien risikoarme Investitionen. Das Resultat ist bekannt: Der Markt kollabierte – und weil niemand wusste, bei welchen Banken sich wie viele der faulen Wertpapiere verbargen, kam es zu einem Domino-Effekt, der die gesamte Wirtschaft mitriss. 

Es wird nicht die letzte unangenehme Überraschung gewesen sein: „Wir werden auch in Zukunft Krisen erleben“, sagt Henry. Aber hoffentlich zumindest nicht noch einmal die gleichen, „weil wir von 2008 etwas gelernt haben“. 

Ein wichtiger Schritt zur Prävention von Finanz- und anderen Krisen sind Investitionen in ein Frühwarnsystem. Das erleichtert, Gefahren zu erkennen, bevor sie sich zu einem großen Problem ausweiten. Allerdings ist das je nach Art der Krise unterschiedlich herausfordernd. So ist bei Pandemien ein Frühwarnsystem äußerst schwierig. Paradoxerweise gilt: Je tödlicher eine Krankheit ist, desto schneller wird sie entdeckt. Eine weniger schwere Krankheit breitet sich dagegen oft aus, ohne dass die Menschen lange Zeit überhaupt etwas davon bemerken. 

Immerhin: Selbst die schwerwiegendsten Pandemien oder Krisen können Innovationstreiber sein. So haben viele Unternehmen ihre digitale Infrastruktur während der Corona-Zeit massiv verbessert und sind heute viel besser in der Lage, ihren Geschäftsbetrieb auch unter Stress aufrechtzuerhalten.

Können wir uns auf bessere Zeiten freuen?

„Es wird interessant sein, wie wir in zehn Jahren auf die aktuelle Situation zurückblicken“, sagt Henry. Hoffnungsvoll macht ihn, dass die meisten großen Volkswirtschaften bereits wieder auf oder über dem Vor-Corona-Niveau liegen – und sich wirtschaftlich gut erholt haben. Und im Vergleich zu 2008 steht die Welt in Summe heute besser da. Das weltweite Alphabetisierungs- und Bildungsniveau ist auf einem Rekordhoch, der durchschnittliche Lebensstandard gestiegen.

Ich glaube, dass die Weltwirtschaft in Zukunft viel besser dastehen wird – und sich unsere Lebensqualität verbessert.

Henry ist zuversichtlich, dass es in 10 oder 20 Jahren Technologien und Medikamente geben wird, die heute noch nicht existieren. „Ich glaube, dass die Weltwirtschaft in Zukunft viel besser dastehen wird – und sich unsere Lebensqualität verbessert. Wir werden die aktuellen Stürme genauso bewältigen wie die alten“, sagt Henry.

Das Interview wurde von Annette Jentsch und Katrin Palm geführt.

Henry Allen Deutsche Bank Research

Über Henry Allen

Henry Allen ist Analyst bei Deutsche Bank Research in London. Er kam vor fast fünf Jahren nach Abschluss seines Studiums zur Deutschen Bank und arbeitet im Research-Team von Jim Reid. Er ist an einem Großteil der globalen Makro-Analysen der Deutschen Bank beteiligt, einschließlich des Early Morning Reid, und veröffentlicht auch seine eigenen Analysen zu Märkten, Politik und Finanzgeschichte. Henry hat einen BA-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften von der University of Cambridge.

Katrin Palm

Katrin Palm

… verantwortet digitale Kampagnen und Kommunikationsprojekte. Wie Henry auch, ist sie eine optimistische Person. Sie teilt seine Ansichten über die Zukunft und gibt die Hoffnung nicht auf, dass wir aus der aktuellen Situation lernen.

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