„Der Rechtsruck wird spürbar sein“
Malte Kilian ist Leiter der Abteilung für politische Beziehungen der Deutschen Bank in der EU. Er lebt seit 2014 in Brüssel und pflegt enge Kontakte zu den Entscheidungsträgern. Wir sprachen mit ihm darüber, wie sich das politische Klima nach der Parlamentswahl entwickeln wird – und warum der Ausgang Bürger wie Unternehmen unmittelbar berührt.
Malte, du lebst und arbeitest in Brüssel. Wie ist die Stimmung vor der Europa-Wahl im Juni?
In den vergangenen Wochen ging es recht intensiv und hektisch zu. Viele politische Akteure wollten ihre Vorhaben noch rechtzeitig vor der Wahl abschließen. Jetzt ist es hier ruhiger, weil die Abgeordneten den Wahlkampf vor allem in ihren Heimatländern machen. Die Kommission und die Mitgliedstaaten arbeiten aber natürlich weiter.
Befürchtest du bei der Wahl einen Rechtsruck?
Den wird es ziemlich sicher geben. Die europaskeptischen Parteien legen in allen Umfragen kräftig zu – auch in EU-Gründungsstaaten wie Deutschland und Frankreich.
Wie wird sich dadurch das politische Klima in Brüssel verändern?
Sehr wahrscheinlich werden die europafreundlichen Kräfte trotz allem die Mehrheit im Parlament behalten – von der Europäischen Volkspartei über die Sozialdemokraten bis zu Grünen und Liberalen. Die Rechtsparteien werden daher vermutlich keine handfeste politische Gestaltungsmacht erobern. Trotzdem wird der Rechtsruck in der Praxis spürbar sein. Mehr Sitze im Parlament bedeuten mehr Redezeit, mehr Posten und mehr Geld. Damit lassen sich politische Debatten kapern, Prozesse verzögern und Entscheidungen behindern.
Warum ist der Wahlausgang für die Wirtschaft wichtig?
Das Parlament hat zwar kein Initiativrecht für neue Gesetze, das liegt exklusiv bei der Europäischen Kommission. Aber erstens wählt das Parlament die neue Kommission. Zweitens muss es, neben dem Europäischen Rat, bei 80 Prozent aller Gesetzesvorhaben zustimmen. Deshalb entscheidet es maßgeblich mit, wie es in Europa weitergeht. Das betrifft Unternehmen genauso unmittelbar wie die Bürger.
Worauf wird sich das Parlament in der kommenden Legislatur konzentrieren?
Im Vergleich zu den anstehenden Wahlen in den USA und Großbritannien ist die Europa-Wahl weniger disruptiv. Es wird keine radikale politische Kurskorrektur geben. Aber die Wettbewerbsfähigkeit Europas wird noch stärker in den Fokus rücken. So dürfte der Green-Deal, den Ursula von der Leyen 2019 als Zugeständnis an die Grünen aufgelegt hat, zu einem „Green Industrial Deal“ weiterentwickelt werden.
Was meinst du damit?
Die meisten Fachleute sind sich einig: Der Kampf gegen den Klimawandel darf nicht zu noch schärferen Vorschriften und Hürden für die Wirtschaft führen. Es muss stattdessen darum gehen, wie die Unternehmen die grüne Transformation am besten umsetzen können, anders gesagt: wie daraus ein Business Case werden kann. Der Druck auf die Politik, in diese Richtung zu gehen, ist groß. Und mein Eindruck ist, dass die relevanten Akteure das auch verstanden haben.
Und was ist mit Blick auf die geopolitischen Spannungen und Konflikte zu erwarten?
Ganz oben auf der Prioritätenliste steht natürlich, Europa in die Lage zu versetzen, sich besser selbst zu verteidigen – und die wirtschaftliche und energiepolitische Autonomie sicherzustellen.
Dazu gehört ein robuster Finanzmarkt. Wie sieht es in diesem Bereich aus?
Die Regulierung hat sich nach der Finanzkrise massiv verschärft. Zum Teil zu Recht, aber jetzt ist es an der Zeit, auch in diesem Bereich mehr darauf zu achten, dass Europa wettbewerbsfähig bleibt.
Wie ginge das?
Eine europäische Kapitalmarktunion, also ein EU-weit integrierter Kapitalmarkt, wäre enorm wichtig, damit Europa die dringend notwendigen privaten Investitionen stemmen kann. Fakt ist aber: Seit den ersten Anläufen für eine solche Union im Jahr 2014 sind die Fortschritte sehr überschaubar geblieben. Europas Finanzmarkt ist immer noch ein Flickenteppich – was Investoren abschreckt.
Wird sich das in der nächsten Legislatur ändern?
In den Wahlprogrammen gibt es viel grundsätzliche Unterstützung – allerdings fehlt es an konkreten Vorschlägen, wie die Kapitalmarktunion Wirklichkeit werden kann. Immerhin: Ende April haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs für Fortschritte ausgesprochen – ein sehr wichtiges Zeichen, das die Kapitalmarktunion zur Chefsache macht. Aber sie bleibt ein Generationenprojekt.
Wir haben bislang viel über Inhalte gesprochen. Politik hängt stark von Personen und Netzwerken ab. Wie wird sich das Gesicht Brüssels nach den Wahlen verändern?
Erheblich! Im Parlament dürften nach der Wahl mehr als die Hälfte aller Abgeordneten neu dabei sein, die zu großen Teilen ihre eigenen Mitarbeiterstäbe mitbringen. Auch in der nächsten Kommission wird es auf den Leitungsebenen viele neue Gesichter geben. Jeder, der in Brüssel aktiv ist, wird alle Hände voll zu tun haben, sein Netzwerk frisch zu knüpfen. Es wird eine spannende Zeit!
Sechs Fakten zur Europawahl
- Vom 6. bis 9. Juni 2024 bestimmen die EU-Bürger*innen in nationalen Wahlen die 720 Mitglieder des Europäischen Parlaments – und zwar für fünf Jahre.
- Deutschland hat mit 96 Abgeordneten die meisten Sitze, gefolgt von Frankreich (79) und Italien (76). Anders als bei der Bundestagswahl gibt es bei der Europawahl in Deutschland keine Fünf-Prozent-Klausel. Erstmals dürfen Jugendliche ab 16 Jahren ihre Stimme abgeben.
- Das Europäische Parlament ist Mitgesetzgeber, zusammen mit dem Rat der Europäischen Union, der die 27 EU-Mitgliedstaaten vertritt.
- Die erste Aufgabe des neubesetzten Europäischen Parlaments besteht darin, auf der Grundlage eines Vorschlags des Europäischen Rates den nächsten Präsidenten der Europäischen Kommission zu wählen – vermutlich im September.
- Anschließend stimmt das Europäische Parlament über die gesamte Kommission ab, nachdem es die 26 designierten Kommissare in öffentlichen Anhörungen befragt hat.
- Die EU-Kommission hat das Initiativrecht für Gesetzesvorschläge.
Empfohlene Inhalte
Marion Mühlberger beobachtet und analysiert für Deutsche Bank Research seit 2020, wie sich die europäische Wirtschaft entwickelt. Als Teil der Europa-Kampagne der Deutschen Bank spricht sie Im Interview darüber, wie die Politik in Brüssel die Wettbewerbsfähigkeit beeinflusst, welche Hausaufgaben die EU erledigen muss – und wo Europas Stärken liegen.