„Ich habe aufgehört, mich mit anderen zu vergleichen“
Yang Xu ist in einer ärmlichen Bergregion Chinas aufgewachsen. Ihre Eltern sahen sie als Lehrerin vor Ort, aber sie nahm einen anderen Weg. Heute ist Yang Senior Vice President bei Kraft Heinz. Wie hat sie es bis hierhin geschafft?
Yang, erzählen Sie uns doch ein wenig von Ihrem Weg.
Ich bin das einzige Kind meiner Familie. Meine Eltern arbeiteten hart und hatten nur einen Tag in der Woche frei, ich war also ein ziemlich einsames Kind. Ich suchte Zuflucht in Büchern - das Lesen und Lernen war meine Art, der Einsamkeit zu entkommen. Ich träumte davon, Reiseleiterin zu werden, um die Welt zu bereisen, Englisch zu sprechen und den Geschichten der Menschen zuzuhören.
Niemand hatte große Erwartungen an mich – nicht mal ich selbst. Meine Eltern wollten, dass ich Lehrerin oder Ärztin vor Ort werde. Aber ich hatte große Träume, unsere Provinz zu verlassen. Ich wollte unbedingt wissen, wie die Welt hinter den Bergen von Guizhou aussieht.
Wie also sah der erste Schritt hinter den Bergen aus?
Während meines Studiums der Finanzwissenschaft an der Universität Wuhan begann ich, im Konsulat Französisch zu lernen. Meine Leistungen waren sehr gut, so dass ich ein Stipendium der HEC Paris erhielt, um dort meinen Master-Abschluss zu machen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie groß die Freude war, als wir die Nachricht erhielten. Meine Familie lud zu einer kleinen Feier ein und mein Vater hielt zum ersten Mal in seinem Leben eine Rede.
Kurze Zeit später machte ich mich auf den Weg. Ich nahm ein Flugzeug in die nächstgelegene Großstadt – für mich war es das erste Mal, dass ich in einem Flugzeug saß.
Aber erst im Bus auf der Fahrt nach Hongkong wurde es mir so richtig bewusst: Ich war auf dem Weg in ein fremdes Land, in dem ich niemanden kannte, um dort ein neues Leben zu beginnen. Mich überkam Panik. Ich hielt jedoch an einem kleinen Ziel fest, das ich mir gesetzt hatte: Meine Mutter hatte sich eine Flasche französisches Parfüm gewünscht. Diesen Wunsch wollte – und konnte – ich erfüllen.
Mir wurde klar, dass nichts unmöglich ist – es braucht nur Entschlossenheit und den Willen sich anzustrengen.
In Paris wussten Sie sofort, wo es langgeht …
Nicht ganz! In Paris wurde mir bewusst, wie wenig ich eigentlich wusste. Ich sprach Französisch und Englisch... aber alle sprachen so schnell, dass ich kaum jemanden verstanden habe! Ich konnte mich nicht wirklich mit meinen Klassenkameraden austauschen.
Während ich in China die Musterschülerin war, musste ich mich nun in der Rangordnung weit unten einsortieren. Zu meinem Erfolgsgeheimnis, mit dem ich in China erfolgreich war, gehörte viel schreiben, jede Menge Notizen machen und mir möglichst viel davon merken. Das musste ich nun überdenken und eine neue Art des Lernens entwickeln.
Einen Fernseher konnte ich mir nicht leisten, also kaufte ich mir ein Radio. Ich hörte stundenlang zu, um die Sprachen zu üben. Schon bald machte ich Fortschritte, konnte ich mich viel besser verständigen und aktiv in Gespräche einbringen. Mir wurde klar, dass nichts unmöglich ist – es braucht nur Entschlossenheit und den Willen sich anzustrengen.
Was waren die wichtigsten Stationen Ihrer bisherigen Laufbahn?
Am Anfang war ich sehr darauf fokussiert, auf der Karriereleiter Stufe für Stufe nach oben zu steigen. Es gab viel zu lernen und ich versuchte, mich stetig anzupassen. Ich wurde dazu angehalten, öfter meine Stimme zu erheben, mich mehr einzubringen, besser zu vernetzen und mich anders zu kleiden. Aber ich hatte damals nicht das Gefühl, dass ich wirklich etwas zu sagen hatte. Im Laufe der Jahre fand ich aber immer besser zu mir selbst. Ein Prozess, den viele von uns erleben, wenn wir älter werden. Ich wurde mir meiner Stärken bewusst – und mir gefiel mein wahres Ich.
Ich realisierte, dass ich mit meiner Arbeit etwas bewirken konnte: für das Unternehmen und für die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Das motivierte mich ungemein und mit dieser Erkenntnis änderte sich alles. Titel und Vergütung waren nicht länger das Wichtigste. Stattdessen nahm ich Aufgaben an, die mir die Möglichkeit gaben, etwas Positives zu bewirken. Und ich konzentrierte mich auf mein Umfeld, baute Beziehungen zu den Menschen um mich herum auf und nutzte dieses Netzwerk als Maßstab für Erfolg. Das war eine wichtige Entwicklung für mich.
Ich habe gelernt, dass diejenigen, die dich gezielt ansprechen, etwas Besonderes in dir sehen.
Insbesondere Frauen leiden am sogenannten „Hochstapler- Syndrom“. Kennen Sie das aus eigener Erfahrung?
Ja, das begleitet mich bis heute, aber ich lasse mich davon nicht mehr aus der Ruhe bringen. Man hat immer im Hinterkopf: Kann ich das wirklich? Bin ich die richtige Person für diesen Job? Aber ich habe gelernt, dass diejenigen, die dich gezielt ansprechen, etwas Besonderes in dir sehen. Sie erkennen, dass du die richtige Person für die Aufgabe bist.
Und ganz wichtig: Ich habe aufgehört, meine Schwächen mit den Stärken anderer zu vergleichen. Ich schiebe meine Selbstzweifel beiseite, indem ich mich darauf konzentriere, mich bestmöglich mit meinen Stärken einzubringen.
Inwiefern beeinflusst Ihr Aufwachsen in China Ihre Arbeitsweise?
Es gibt drei Dinge, die ich meiner chinesischen Erziehung zuschreibe, die mir in der Unternehmenswelt sehr geholfen haben. Erstens ist es mir nie in den Sinn gekommen, dass eine Frau weniger Rechte haben könnte als ein Mann. Dort, wo ich aufgewachsen bin, haben Männer und Frauen die gleiche Arbeit verrichtet, und niemand dachte, dass Männer bestimmte Aufgaben besser erledigen können als Frauen. In meiner beruflichen Laufbahn wurde ich also nie durch diese Denkweise behindert.
Zweitens wurde mir mit meiner Herkunft aus einer armen Gegend eines Entwicklungslandes eine starke Arbeitsmoral eingeimpft. Mir wurde beigebracht, dass man sich sehr anstrengen muss, um erfolgreich zu sein.
Und schließlich musste ich als Einzelkind lernen, mir ein eigenes Umfeld aufzubauen. Meine Beziehung zu Nachbarn, Klassenkameraden, Freunden war für mich sehr wichtig. Mir wurde klar, dass ich nicht allein auf dieser Welt bin, sondern dass ich andere brauche, auf die ich mich verlassen kann und sie sich auf mich. Bei Kraft Heinz nennen wir das die „Kraft des Wir“ und meinen damit die Gemeinschaft, die es uns ermöglicht, etwas Gutes zu schaffen.
Wie übertragen Sie die „Kraft des Wir" auf Ihr Berufsleben?
Obwohl wir als Team an einem beruflichen Ziel arbeiten, behandle ich die Menschen als individuelle Persönlichkeiten. Mir ist es sehr wichtig, vertrauensvolle Beziehungen zu meinem Team und zu meinen Kolleginnen und Kollegen aufzubauen. Wenn wir ein Projekt zu erledigen haben, spreche ich mit meinem Team über das große Ganze und versichere ihnen, dass ich immer zur Verfügung stehe, wenn sie mich brauchen. Ich warte dann gespannt, wie sie die Aufgaben angehen wollen. Ich habe es immer gehasst, Anweisungen bis ins kleinste Detail zu erhalten.
Das ist nicht die Art, wie ich selbst arbeiten möchte. Ich sehe die besonderen Fähigkeiten und Kenntnisse eines jeden Einzelnen und bin davon überzeugt, dass wir gemeinsam so viel erreichen können. Das gelingt vor allem dann, wenn jeder von uns den Freiraum erhält, sich selbst auszuprobieren, um auf diese Art und Weise zum Gelingen des Ganzen beizusteuern.
Ich betrachte jeden neuen Job als „bezahltes Lebenstraining“.
Was raten Sie allen, die etwas anders machen wollen, aber Bedenken haben?
Zunächst einmal ist es völlig in Ordnung, wenn man nicht weiß, was man mit seinem Leben anfangen will und wo man irgendwann landen möchte. Die meisten von uns finden das auf ihrem Weg heraus. Ich habe lange gebraucht, um an diesen Punkt zu gelangen, und eigentlich weiß ich heute noch immer nicht, was ich am Ende des Tages einmal sein möchte! Deshalb betrachte ich jeden neuen Job als „bezahltes Lebenstraining“.
Jemand bietet Ihnen die Möglichkeit, etwas zu tun, was Sie noch nie getan haben? Sagen Sie zu, denn es gibt immer neue Dinge und Kontakte, die darauf warten, entdeckt zu werden. Egal, was als nächstes kommt, nehmen Sie das alles mit! Das Leben verläuft nicht immer geradlinig – freuen Sie sich auf die vielen Wissensabenteuer links und rechts des Weges.
Über Yang Xu
Yang Xu ist als Senior Vice President für die globale Unternehmensentwicklung und das Finanzwesen bei Kraft Heinz zuständig. Sie ist in der Provinz Guizhou (China) aufgewachsen. Ihre Eltern sahen sie als Lehrerin vor Ort, aber Yang entschied sich für einen anderen Weg. Ihre Karriere führte sie zu globalen Unternehmen wie GE Healthcare und Whirlpool. Yang war in sieben Ländern auf drei verschiedenen Kontinenten unterwegs. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Alter von zehn und zwölf Jahren in Amsterdam.
Tonisha Robinson
… arbeitet in der Abteilung für Interne Kommunikation und schreibt am liebsten Geschichten, in denen es um Menschen und ihren Beitrag für die Bank geht. Als gebürtige Jamaikanerin wecken besondere Wege zum Erfolg ihre Neugier – und sind Quelle ihrer Inspiration.
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